Postkarten aus dem Russländischen Reich: Die Sammlung Radzievsky in der Online-Datenbank DaSCH
Es ist ein besonderes Glück, dass eine so umfangreiche Postkartensammlung wie die der russischen Familie Radzievsky den Weg in den Besitz des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte der Universität Basel gefunden hat.
Das Benutzungshandbuch für die Datenbank finden Sie hier.
Die Erfindung der Fotografie und die weltweite Professionalisierung und Vereinheitlichung des Postwesens veränderten die Kommunikation in der Mitte des 19. Jahrhunderts grundlegend. 1872, nur drei Jahre nachdem die ersten – noch bildlosen – Postkarten in Österreich-Ungarn zirkulierten, wurden sie auch im russischen Postwesen zugelassen. Durch den ersten Weltpostkongress, der 1874 in Bern abgehalten wurde und dem sich über 22 Staaten anschlossen, wurde das neue Medium schliesslich vereinheitlicht und ab den 1880er Jahren zunehmend mit fotografischen Motiven bedruckt. Sie erst machten diese billige Form der Nachrichtenübermittlung zu einem beliebten Massenmedium. Die moderne Postkarte war geboren. 1875 wurden über 231 Millionen Postkarten verschickt – um 1900 sollten es bereits 2,8 Milliarden sein.1
Der russische Markt hinkte dieser Entwicklung jedoch hinterher. Aufgrund staatlicher Monopole, die erst kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert langsam abgebaut wurden, dominierten lange Zeit ausländische Firmen den russischen Markt. Erst langsam, aber dann immer erfolgreicherer, erkämpften sich russische Unternehmen stabile Marktanteile – Marktgiganten wie die schwedische Firma Granberg mussten sich damit abfinden, dass nun Firmen wie das Moskauer Fotoatelier Nabholz, Scherer und Co qualitativ ebenbürtige Postkarten anboten. Daneben sorgten jedoch gerade viele kleine und lokale Druck- und Fotoateliers dafür, dass das Angebot auch im Russländischen Reich immer vielfältiger wurde. Ein Beispiel hierfür ist das Taschkenter Unternehmen des vermutlich aus Transkaukasien stammenden Fotografen I. A. Bek-Nazarov.
Doch Postkarten können sich nicht nur als Sinnbilder von zunehmend globalisierten Märkten und internationalen Vereinheitlichungsprozessen gelesen werden. Gerade sie demonstrieren, wie schnell sich Privatpersonen und verschiedene Gruppen dieses Medium aneigneten und über seinen kommerziellen oder propagandistischen Verwendungszweck hinaus veränderten: Zahlreiche kulturelle und soziale Praktiken bildeten sich heraus: Postkarten wurden verschickt, beschrieben, bekritzelt, gesammelt, getauscht, gerahmt, zerstört oder zum Lesezeichen umfunktioniert. So wurden Karten mit dem Motiv der kaiserlichen Familie wahrscheinlich teilweise respektvoll in der Ikonenecke in Ehren gehalten – in anderen Kontexten drückte jedoch die gezielte Beschädigung des kaiserlichen Papier-Konterfeis Widerstand oder Ablehnung aus.2
Damals wie heute schieden sich Geister wie Geschmäcker an den unterschiedlichen Motiven und Aufmachungen – und weckten zum Teil sogar den nationalen Stolz oder die Berufsehre der Betrachtenden: So bemerkte der russische Fotograf Sergej Prokudin-Gorskij, der selbst in Sankt Petersburg Postkarten herausgab, während eines Aufenthaltes im russischen Zentralasien: "Heute habe ich eine Postkarte der Stadt Samarkand gekauft. Der Verkäufer erklärte mir mit einigem Stolz, dass der Brief mit einer fotografischen Methode im Ausland gedruckt worden war, wie als ob es in Russland unmöglich wäre, eine solche Reproduktion herzustellen. Teilweise ist dies vielleicht richtig – doch solch einen schlechten Druck habe ich selten gesehen, nicht einmal in miserablen Druckanstalten – doch das war ein besonderer Fall."3
Beispiele wie diese sind es, die anschaulich den Quellenwert des Mediums für die modernen Geschichtswissenschaften demonstrieren, indem sie über eine rein kunst- oder technikgeschichtliche Leseweise dieser bisher meist als seriell verstandenen Quelle hinwegweisen und die individuellen materiellen Biografien von Einzelstücken oder kulturgeschichtlich deutbare soziale Praktiken bestimmter Akteure andeuten.
Aus diesem Grund hat sich der Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte der Universität Basel entschlossen, seine Sammlung von Postkarten aus dem Russländischen Reich für ein breites Publikum zugänglich zu machen.
Hintergründe
Vera Radzievska suchte und kaufte die alten Postkarten über viele Jahre hinweg auf unterschiedlichen Moskauer Flohmärkten. Zusammen mit ihrem in Paris lebenden Sohn, Pavel Radzievsky, hegte sie ein reges Interesse an alten Büchern und historischen Gegenständen. Die Postkartenraritäten, so ihr gemeinsamer langjähriger Wunsch, sollten einst die Grundlage für eine Ausstellung bilden. Pavel Radzievsky war vermutlich Anfang der 1980er Jahre aus Moskau nach Frankreich emigriert und liess sich in Paris als Antiquar nieder. Er kaufte Bücher von russischen Emigranten auf, zum Teil Erstausgaben und Raritäten, die im Exil in Berlin, Prag oder Paris erschienen waren. Gleichzeitig versorgte ihn seine Mutter regelmässig mit antiquarischen Buchlieferungen aus Russland. Hierüber entstand schliesslich die enge Verbindung der Radzievskys zur Basler Universitätsbibliothek: Erstmals trat der Antiquar im Jahre 1986 aufgrund der weit über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannten Sammlung des Basler Theologen Fritz Lieb an die Universitätsbibliothek heran und bot ihr in Ergänzung zum Basler Marina Zwetajewa-Archiv drei Erstausgaben mit Autographen der Autorin an. In den darauffolgenden Jahren kam es immer wieder zu wertvollen Bücherankäufen durch die Bibliothek. Nach Pavels frühem Tod Mitte der 1990er Jahre war es seine mittlerweile aus Russland emigrierte Mutter, die die Reisen nach Basel unternahm. Anlässlich ihres letzten Besuchs 1998/99 schenkte sie Dr. Helena Kanyar-Becker, die als Fachreferentin für Slavistik in der Universitätsbibliothek über Jahrzehnte für die Aufkäufe der antiquarischen Bücher zuständig war, ihre wertvolle Postkartensammlung, in der Hoffnung, dass sie einmal Gegenstand einer Ausstellung werden würde.4
Frau Kanyar-Becker gab diese Sammlung von insgesamt 409 Einzelstücken an den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte weiter. Vom 12. Dezember 2009 bis zum 26. März 2010 wurde die Ausstellung „Liebe Grüsse aus Moskau. Eine Postkarten-Reise ins Zarenreich“ dann schliesslich innerhalb der Räume der Universitätsbibliothek Basel realisiert. Sie wurde unter der Leitung Professor Heiko Haumanns und dem damals als Kuratoren fungierenden Assistenten Jörn Happel unter Mitarbeit von Lehrstuhlmitgliedern und einigen Studierenden erarbeitet. Der Erfolg der Ausstellung war so groß, dass sie daraufhin auf Wanderschaft ging und ebenfalls in Astano (Tessin) und in Kiel gezeigt wurde.
Bereits im Vorfeld der Ausstellung waren alle Postkarten im Rahmen eines Werkauftrages von Yael Debelle 2009 eingescannt und so digital gesichert worden. Helen Würsch verschlagwortete schliesslich 2013/14 im Rahmen einer wissenschaftlichen Hausarbeit über den Quellenbestand die Bilder und überführte sie mit Unterstützung von Dr. Lukas Rosenthaler vom "Digital Humanities Lab" in die Datenbank SALSAH. 2023 wurden die Daten von PD Dr. Rita Gautschy vom Swiss National Data and Service Center for the Humanities (DaSCH) in das neue System DSP migriert. Dort wurden sie nun endlich einem breiteren Nutzerkreis zugänglich gemacht.
Allen daran Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich für ihre Mithilfe gedankt!
Sollten Sie Fragen oder Interesse an einer weitergehenden Verwendung der Bilder haben, wenden Sie sich bitte an Prof. Dr. Benjamin Schenk (benjamin.schenk-at-unibas.ch).
[1] Rowley, Alison: Open Letters. Russian Popular Culture and the Picture Postcard, 1880-1922. Toronto/Buffalo/London 2013, S. 21-22.
[2] Rowley, Alison: Open Letters, S. 3-4.
[3] Prokudin-Gorskij, Sergej: [Predislovie]. In: Fotograf-ljubitelʼ 3/1907, S. 68.
[4] Abschnitt übernommen aus der Begleitbroschüre zur Ausstellung. Haumann, Heiko u.a.: Liebe Grüsse aus Moskau. Eine Postkarten-Reise ins Zarenreich. Basel 2009.
Ausstellung: Liebe Grüsse aus Moskau. Eine Postkarten-Reise in das Zarenreich
Die von Jörn Happel kuratierte erfolgreiche Ausstellung in der Universitätsbibliothek Basel (12. Dezember 2009 bis 26. März 2010) zeigte Postkarten aus Russland und liess die Besucher eine einmalige fiktive Gedankenreise ins Zarenreich um 1900 unternehmen.
Der Erfolg der "Lieben Grüsse" sprach sich herum. Die Ausstellung wurde von Juni bis Oktober 2010 in Astano/Tessin und im Oktober und November 2011 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gezeigt.
Die "Lieben Grüsse aus Moskau" thematisieren gängige Stereotype, die über Russland vorherrschen: So besteht das Land nicht nur aus Russinnen und Russen; es war und ist ein Vielvölkerreich. Die Schreiberinnen und Schreiber der ausgestellten Postkarten ahnten dies vielleicht. Wählten sie deshalb bewusst die Vielfalt der Motive: die Kasachen vor ihrer Jurte? Oder das Bild des Postboten in Petersburg, des Glasers in Bessarabien? Oder die Überschwemmung Moskaus, die Bäuerinnen an der Wolga, die Kalmückinnen im Kaukasus, die Moschee in Samarkand?
Die Ausstellung konzentriert sich für einmal nicht nur auf das "europäische" Russland. Die Vielfalt des Landes und das Vielvölkerreich selbst werden aus einer besonderen Perspektive dargestellt: der zentralasiatischen und sibirischen. Motive waren einfache Bauern, Strassenhändler, Bräute, aber auch der Zar und seine Familie. Die "Lieben Grüsse aus Moskau" nehmen die Besucherinnen und Besucher mit in eine längst vergangene Zeit, sie lassen vom Reisen träumen und fordern auf, allzu bekannte Annahmen von Russland zu überdenken.
Zur Begleitbroschüre geht es hier.
Weiterführende Literatur
Čapkina, M.: Chudožestvennaja otkrytka. K stoletiju otkrytki v Rossii. Moskva 1993.
Fraser, John: Postcards from the Russian Revolution. Oxford 2008.
Holzheid, Anett: Das Medium Postkarte: eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie. Berlin 2011.
Jaworski, Rudolf: Deutsche und tschechische Ansichten. Kollektive Identifikationsangebote auf Bildpostkarten in der späten Habsburgermonarchie. Innsbruck/Wien/Bozen 2006.
Rowley, Alison: Open Letters. Russian Popular Culture and the Picture Postcard, 1880-1922. Toronto/Buffalo/London 2013.
Tropper, Eva: Kommunikationsraum „Welt“. Die Ansichtskarte und die Phantasmen von Globalität um 1900, in: András F. Balogh und Helga Mitterbauer (Hg.): Zentraleuropa – ein hybrider Kommunikationsraum, Wien 2006, S. 215–226.
Walter, Karin: Postkarte und Fotografie. Studien zur Massenbild-Produktion. Würzburg 1995.
Willoughby, Martin: Die Geschichte der Postkarte: Ein illustrierter Bericht von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart. Erlangen 1993.
Starl, Timm und Tropper, Eva (Hg.): Zeigen, grüssen, senden. Aspekte der fotografisch illustrierten Postkarte. Marburg 2010 (Themenheft, entspricht Fotogeschichte 118).