5. - 8. September 2012, Europa Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
Eine Tagung des Centre Marc Bloch Berlin in Zusammenarbeit mit der Europa-Universität Viadrina, der Universität Basel und der Internationalen Gesellschaft für Eisenbahngeschichte.
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Benjamin Schenk (Universität Basel) Dr. Jan Musekamp (Europa Universität Viadrina).
Leitung des Kompetenznetzwerks: Béatrice von Hirschhausen
Autorin des Tagungsberichts: Insa Breyer, Centre Marc Bloch, Wissenschaftliche Koordinatorin des Kompetenznetzwerks, – Deutsch-Französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften. E-Mail: insa.breyer-at-cmb.hu-berlin.de
(Den Tagungsbericht des H-Soz-Kult finden Sie hier.)
Das Programm der Tagung.
“Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa” ist ein durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Kompetenznetzwerk. Es untersucht das Phänomen, dass die Grenzen nicht mehr existenter politischer Einheiten (wie beispielsweise des Habsburger Reichs) teilweise bis heute prägend und im Verhalten der Menschen sichtbar bleiben. Dies lässt sich in der Demografie, im Wahlverhalten und in anderen sozialen Praktiken beobachten (weitere Informationen unter http://www.phantomgrenzen.eu). Im Rahmen des Netzwerks unterscheiden wir vier Modi von Phantomgrenzen. Das historische Erbe im Recht sowie in den Normen und Institutionen (wie beispielsweise Katasterstrukturen) wird ebenso in den Blick genommen wie die Wirksamkeit von Phantomgrenzen in kulturellen Präsentationen, im gesellschaftlichen Verhalten und in der politischen Instrumentalisierung.
Dem vierten Modus, der Bebauung und Erschließung des geografischen Raums, näherte sich die interdisziplinäre und internationale wissenschaftliche Tagung über Infrastrukturnetzwerke und Phantomgrenzen, die vom 5. bis 8. September 2012 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder stattfand. Dabei gingen die Organisatoren davon aus, dass materielle Hinterlassenschaften nationaler Infrastrukturnetze den Wandel politischer Grenzen überdauern und diese über historische Zäsuren hinweg soziale Handlungsmuster gestalten können. Von besonderem Interesse war hierbei die Frage nach Wechselwirkungen zwischen materiellem Erbe und sozialer Praxis.
Die Tagung wurde eröffnet von der Leiterin des Kompetenznetzwerks Béatrice von Hirschhausen (Berlin), die eingangs die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse des Gesamtprojekts vorstellte.
Karl Schlögel (Frankfurt/Oder) hob in seinem Eröffnungsvortrag die Bedeutung von Grenzen und Grenzverschiebungen in der neueren europäischen Geschichte hervor. Durch die Neukartierung des Kontinents nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stellten sich heute viele Regionen im östlichen Europa als Räume mit sich überlappenden Grenzen sowie materiellen und immateriellen Spuren verschiedener politischen Ordnungen dar. Infrastrukturnetzwerke – wobei auch Schulen, Krankenhäuser und ähnliche Einrichtungen von Bedeutung seien – müssten hinsichtlich ihrer Bedeutung von Routinen und Alltagshandeln untersucht werden: diese scheinen oft selbstverständlich und sollten gerade deshalb eine wichtige Rolle in der Forschung einnehmen. Schlögel plädierte dafür, in verstärktem Maße den Wandel von Raumstrukturen zu untersuchen, der mit der Dynamik geographischer Mobilität großer sozialer Gruppen einherging und einhergeht.
In seinem Grußwort erläuterte Rolf Geserick (Bonn) seitens des Ministeriums noch einmal die Idee des Förderprogramms zur Stärkung und Weiterentwicklung der Regionalstudien (area studies).
Elisabeth R. Vann (Brockton/Massachusetts) präsentierte in ihrem Vortrag The Role of the Railway in the Development of National Identity in Slavic Silesia, 1860 – Present: a Community Study die Ergebnisse ihrer Feldforschung, die sie von 1992 – 1995 in einem polnischen Dorf an einer Bahnlinie nach Oppeln/Opole durchführte. Dabei legte sie dar, dass die Infrastruktur der Eisenbahn für die Identitätsbildung der lokalen Bevölkerung eine wichtige Rolle gespielt habe. Durch den Anschluss an das Eisenbahnnetz des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert habe sich nicht nur die bauliche Struktur des Dorfes verändert. Mit der Anbindung setzte sich auch das Deutsche als vorherrschende Kommunikationssprache im Ort durch.
Felix Jeschke (London) befasste sich in seinem Vortrag The Nation as a Railway Body. Geopolitical Theory, Nation Building and Trains in Czechoslovakia 1918-1938 mit den geopolitischen Raumvisionen von Viktor Dvorský, einem führenden tschechischen Geographen der Zwischenkriegszeit. In der Tradition von Vordenkern wie Friedrich List entwarf Dvorský das Bauprogramm eines landesweiten Eisenbahnnetzes, mit dessen Hilfe das Territorium des neu geschaffenen Tschechoslowakischen Staates zu einem einheitlich gestalteten Verkehrsraum und nationalen Körper vereinigt werden sollte.
Werner Benecke (Frankfurt/Oder) untersuchte in seinem Vortrag Neu-Bentschen / Zbąszynek. The Hitherto Unwritten History of a Railway Junction Between Germany and Poland die Geschichte und den Bedeutungswandel des Bahnhofs Neu-Bentschen. Von 1919 bis 1939 verlief zwischen der deutschen Station und der polnischen Station Zbąszyń die Landesgrenze, die dann zwischen 1939 und 1945 in der NS-Terminologie das „Altreich“ vom „angegliederten Reichskörper“ trennte. Benecke stellte den bedeutenden Verkehrsknotenpunkt an der deutsch-polnischen Grenze sowohl in seiner Funktion als Grenzbahnhof als auch als Kontrollpunkt geographischer Mobilität vor.
Im Vortrag von Volker Mende (Cottbus) Tannenberg Revisited? Construction and Deconstruction of the Vistula Bridge of Münsterwalde/Opalenie wurde die Geschichte der Brücke über die Weichsel in Münsterwalde/Opalenie untersucht. Mende fragte sowohl nach der militärischen Funktion des Gebäudes (errichtet 1906-1909) als auch nach seiner symbolisch-architektonischen Form als Wehrbrücke. Der Abbruch des Gebäudes nach dem Ersten Weltkrieg, das in den Augen polnischer Zeitgenossen den fortwährenden deutschen Einfluss verkörperte, sei ein bedeutender symbolischer Akt in der Region gewesen.
Szymon Komusiński (Krakau) beleuchtete in seinem Beitrag The Struggle for Unification: How the Interwar Poland Took Efforts to Merge the Railway Systems of the Former Three Partitions (1918-1939) die Anstrengungen des polnischen Staates der Zwischenkriegszeit hinsichtlich der Vereinigung der Infrastrukturnetze der drei Teilungsgebiete zu einem nationalen Verkehrssystem. Dabei habe die Regierung nicht nur versucht, die stark divergierende Dichte des Eisenbahnnetzes im rekonstituierten polnischen Staat zu vereinheitlichen. Gleichzeitig sei es ein Ziel gewesen, das polnische Verkehrswesen möglichst unabhängig von der Infrastruktur der Nachbarländer zu machen.
Tomasz Komornicki und Piotr Rosik (Warschau) widmeten ihren Vortrag dem Thema Road Accessibility of Areas Along the Current and Historical Polish-German Border, wobei sowohl die Grenze zwischen Preußen und dem Russischen Reich, die Grenze aus der Zwischenkriegszeit sowie die aktuelle Grenze zwischen beiden Staaten betrachtet wurde. Dabei warfen sie mit Blick auf historische Straßenkarten die Frage auf, ob aktuelle Disparitäten hinsichtlich der Zugänglichkeit von Verkehrswegen nur auf „Phantomgrenzen“ zurückzuführen seien oder allgemein als ein Zentrum-Peripherie-Phänomen zu betrachten seien.
Gábor Szalkais (Budapest) Vortrag hatte Results of Transportation Conflicts in the 19th Century: Railway Border Crossing Points in the Eastern and Southern Carpathians zum Thema. Basierend auf einem geographischen Ansatz fragt er nach der Stabilität von politischen Grenzen. Mittels einer Untersuchung verschiedener Bahnstationen in den Karpaten stellte er die Geschichte und symbolische Bedeutung der Bahnhofsgebäude dar.
Toader Popescu (Bukarest) fragte in seinem Beitrag Connecting and Disconnecting the Networks: Railways and the Greater Romania Political Project nach der Konstruktion der (rumänischen) Nation im Zuge von Eisenbahn-Netzwerkprojekten. Dabei wurden neben ihrer ökonomischen, sozialen und militärischen Funktion Eisenbahnlinien auch als Katalysatoren für politische Ambitionen betrachtet, besonders in Hinblick auf territoriale Kohäsion. Besonders die Bauprojekte nach dem Ersten Weltkrieg und die hier sichtbar werdenden architektonisch divergierenden Formen von Bahnhofsbauten wurden in den Blick genommen.
Kevin Sutton (Le Bourget du Lac) fragte in „Phantoming“ the Borders: a Phantasm Projected on the Infrastructure Networks? Considerations on Four Phantom Borders in the EU Alpine Area: Culoz, Brenner, Modane and Tarvisio nach regionalen Veränderungen in Norditalien und Südwestfrankreich im Zuge der EU-Integration. Dabei richtete er seinen Blick auf die Frage, wie Orte in diesen Regionen ihren „Grenz-Charakter“ verloren oder konservierten: Verfall, anderweitige Nutzung oder die Transformation zu Erinnerungsorten wurden als verschiedene Möglichkeiten dargestellt und diskutiert.
Mark-Aaron Keck-Szaibel (Berkeley und Frankfurt/Oder) stellte in seinem Vortrag The Roads less Travelled. Travel Narratives and Memory in Post-War East Central European Cultural History Reiseerinnerungen aus Ostmitteleuropa aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in das Zentrum seiner Überlegungen. Dabei griff er sowohl auf literarische Berichte als auch auf Filme zurück und erörterte, wie sich Reisetexte als Quellen für die Analyse von Repräsentationen geographischer und politischer Räume nutzen lassen.
Florian Riedler (Berlin) sprach über Edirne terminus, wobei er einen großen zeitlichen Bogen schlug und nach der Bedeutung der Bahnstation und der Rolle der Eisenbahnverbindung nach Edirne fragte. Die Eisenbahn selbst sei mehrfach von Grenzverschiebungen betroffen gewesen, die Edirne zu einer Grenzstadt der Türkei werden ließen. Anhand der Eisenbahnstation lasse sich auch der Wandel nationaler Architekturstile in Edirne untersuchen.
Jan Musekamp (Frankfurt/Oder) stellt in seinem Vortrag Eydtkuhnen and Wirballen. Transitional Space or 19th Century Hub? die Frage, ob es sich bei diesen Orten im 19. Jahrhundert um einen Transitraum oder eine Drehscheibe handelte. Eydtkuhnen und Wirballen finden sich häufig in Reiseerinnerungen wieder und symbolisierten zugleich die psychologische Scheidelinie zwischen Europa und Russland. In den von Musekamp referierten Erinnerungen wurde die Bedeutung des Ortes als Kontroll- aber auch als Austauschort deutlich. Die damalige deutsch-russische Grenze ist heute russisch-litauische Grenze.
Sławomir Łotysz (Zielona Góra) referierte in seinem Vortrag Dry Ports: Where the Broad and Standard Gauge Meet über das Problem, den der westlichen Teil des Russischen Reichs und die spätere Sowjetunion im Umgang mit den Unterschieden in der Spurweite zum westlichen Europa hatten. So habe, bildlich gesprochen, die Distanz zwischen Russland und Europa 89 mm betragen. In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage nach den historischen Ursachen für die Divergenz der Spurweiten im westlichen und östlichen Europa analysiert.
Nataliya Pashynska (Kyiv) berichtete in ihrem Vortrag über Polygenesis Transport Network in Ukraine and Border Aspects über den Einfluss ehemaliger Grenzen auf die Entwicklung der Transportinfrastruktur in der heutigen Ukraine. Relikte des ehemaligen Habsburger Reichs zeigen sich beispielsweise darin, dass Galizien bis heute vergleichsweise schlecht an die Infrastruktur der Zentralukraine angebunden ist. Auch existieren deutliche Unterschiede zwischen den westlichen, östlichen und nördlichen Teilen der Ukraine bezüglich der Anbindung an das Eisenbahnnetz.
Am Abend gab es die Möglichkeit, mit Amir Husak (New York) über einen interaktiven, webbasierten Dokumentarfilm zu sprechen, Dayton Express: Bosnian Railroads and the Paradox of Integration (näheres zum Projekt unter http://www.daytonexpress.org). Ausgehend von eigenen Jugenderinnerungen folgt das Projekt aktuellen sowie nicht mehr existierenden Bahnlinien in Bosnien und stellt Menschen vor, die an, um und mit diesen Bahnlinien leben und arbeiten.
In den Debatten, die von den unterschiedlichen Perspektiven der vertretenen Wissenschaftsdisziplinen profitierten wurde intensiv diskutiert, ob und wie die Dichte von Infrastruktur, seien es Eisenbahnen, Straßen oder auch Brücken, das soziale und politische Leben prägten und prägen. Von besonderem Interesse war, inwieweit sich Verbindungen von Struktur und sozialer Praxis hinsichtlich von Phantomgrenzen in Infrastrukturnetzwerken festmachen lassen. Im Zuge der Diskussion wurde einerseits betont, dass es offen bleiben müsse, ob und wenn ja wie Infrastruktur soziales und politisches Verhalten beeinflusst. Andererseits unterstrichen mehrere Referenten, die qualitative Studien oder Reiseberichte analysiert hatten, dass beispielsweise Reisemuster deutlich von den infrastrukturellen Voraussetzungen abhängen. Der Einfluss mag indirekt sein, aber es gibt ihn. Deutlich wurde, dass der Zusammenhang nicht im Sinn direkter Kausalität gedacht werden kann, sondern dass soziale Praktiken, Mobilität und mental maps miteinander in Verbindung gebracht werden müssen. Infrastrukturelle Entwicklungen sowie politische und soziokulturelle Veränderungen verliefen ungleichzeitig und ihre Überlappungen (oder deren Fehlen) müssten vertiefend untersucht werden. Dies könne nur auf der Mikro-Ebene und in Studien geschehen, wie sie zum Teil auf der Konferenz präsentiert wurden.
Tagungssprache ist Englisch.
Weitere Informationen: phantomgrenzen.eu