Datum: 7. Dezember 2012
Ort: Universität Basel, Kollegienhaus
Organisation: Lenka Fahrenbach (Universität Basel), Laura Elias Universität Basel)
Autor des Tagungsberichts: Ivo Mijnssen (ivo.mijnssen-at-unibas.ch) Siehe den Tagungsbericht auch auf der Webseite der HSK. Hier können Sie den Bericht unter anderem als pdf. herunterladen oder ausdrucken.
Das Programm des Workshops finden Sie hier.
Visual History erfreut sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit. Seit der Ausrufung eines „pictorial turn“ durch den amerikanischen Kulturtheoretiker J.T.W. Mitchell in den frühen 1990er-Jahren sind Bilder, besonders Fotografien, zunehmend in den Blick der Geschichtswissenschaft geraten. Während die Fotografiegeschichte Westeuropas und des amerikanischen Kontinents bereits ausgiebig beleuchtet wurde, ist eine der großen Fotografienationen erster Stunde bis heute nahezu unerforscht: das russländische Imperium.
Am 7. Dezember 2012 fand am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Universität Basel ein internationaler Workshop zum Thema „Russland in Bildern. Fotografiegeschichte vom Zarenreich bis zur Sowjetunion“ statt. Dazu hatten die beiden Organisatorinnen, Lenka Fehrenbach und Laura Elias, vier auswärtige Gäste eingeladen, die in Kurzvorträgen ihre eigenen Herangehensweisen an die Arbeit mit Fotografien als historischen Quellen vorstellen und methodische Probleme reflektieren sollten. Im Vorhinein hatten die Referent/en/innen jeweils zwei Texte zur vorbereitenden Lektüre eingereicht – einen eigenen Text und einen zweiten, der sie in Bezug auf ihre Arbeit mit Fotografien inspiriert hatte. Auf die Vorträge folgten kurze Kommentare, die in die anschließende Diskussion überleiteten. Erklärtes Ziel der beiden Veranstalterinnen war, mit den Referenten über methodische Herangehensweisen ins Gespräch zu kommen und Erfahrungen über die Arbeit mit Fotografien als historischen Quellen auszutauschen. Demzufolge standen in den Vorträgen weniger die Inhalte der einzelnen Forschungsprojekte zur Diskussion, als die intensive Auseinandersetzung mit dem photographischen Material.
Den ersten Vortrag hielt die amerikanische Historikerin Dr. Heather S. Sonntag (Madison), die sich in ihrer Dissertation mit dem Fotoalbum „Turkestanskij al’bom“ aus den Jahren 1871/72 auseinandergesetzt hat. Sonntag hielt zunächst fest, dass Russland die letzte große Fotonation sei, die es zu entdecken gelte. In russischen Archiven, Bibliotheken und Museen lagere eine schier unglaubliche Menge an Fotografien und Fotoalben aus dem Zarenreich, deren wissenschaftliche Erfassung gerade erst begonnen habe. Als sie vor zehn Jahren erstmals mit dem „Turkestanskij al’bom“ im Rahmen ihrer Masterarbeit in Berührung gekommen sei, habe es praktisch keine westliche Forschungsliteratur über russische Fotografiegeschichte im Allgemeinen und die Geschichte der Kollodion-Ära oder der russischen Kolonialfotografie im Besonderen gegeben.
Sonntag plädierte dafür, nicht mit digitalisierten Varianten zu arbeiten, sondern unbedingt mit den Originalobjekten, um deren materielle Struktur, ihre Wirkung und die in ihnen verborgenen Narrative zu erfassen. Wichtig sei es, jedes einzelne Bild zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren und die Ergebnisse in einer Datenbank festzuhalten. Um die Bilder adäquat interpretieren zu können, sei es notwendig, sich deren Kontexte präzise zu erschließen und nach vergleichbarem fotografischen Material aus gleichem Zeitraum und Kontext zu suchen. Sonntag stieß bei dieser Recherche auf eine ins Auge stechende Praxis: die „Rephotography“ – d.h. „Vorher-Nachher-Bilder“. Einige im „Turkestanskij al’bom“ abgelichtete Objekte waren wenige Jahre zuvor kurz nach der Gründung des Generalgouvernements Turkestan schon einmal für ein Album fotografiert worden. In ihrer Arbeit vergleicht Sonntag diese Bilder und gelangt mithilfe dieser komparatistischen Methode zu überzeugenden Aussagen über Intention und Wirkung des Nachfolgealbums. An den Wert dieser komparatistischen Methode knüpfte auch Laura Elias (Basel) in ihrem Kommentar an. Mithilfe detaillierter Bildbeschreibung und komparatistischer Analyse sei es Sonntag gelungen, in ihrer Dissertation die Geschichte der russischen Herrschaft in Zentralasien aus lokaler Perspektive zu erzählen. Anhand ihrer Bildquellen habe Sonntag konkrete Orte kolonialer Herrschaft und die Auswirkungen der russischen Eroberung auf die indigene Bevölkerung sichtbar gemacht. Nur durch eine akribische Rekonstruktion des historischen Kontexts und mithilfe von Vergleichsmaterial könne man nach Elias der Gefahr entgegenwirken, in Fotografien nur das zu sehen, was man selbst darin zu finden hofft oder was einleuchtende Antworten auf die eigenen Forschungsfragen zu liefern scheint. Offen blieb in der Diskussion die Frage, wie man als Historiker mit der Tatsache umgehen sollte, dass die analysierten Bilder von den Zeitgenossen als objektive Widerspiegelung der Realität wahrgenommen und in höchst unterschiedlichen Kontexten verwendet wurden – wie z.B. zur wissenschaftlichen Analyse ethnischer „Typen“ oder als Vorlagen für die schönen Künste in den imperialen Kunstakademien. Eine weitere Frage, die aufgeworfen wurde, war jene nach der Besonderheit des Mediums: Was macht Fotografien eigentlich zu einer ganz besonderen historischen Quelle? Die Vielzahl der unterschiedlichen Interpretationen, die eine einzelne Fotografie von sich erlaube, war eine der Antworten, welche die Ratlosigkeit der Historikerzunft im Umgang mit Bildquellen prägnant zusammenfasst.
Christopher Stolarski (Baltimore) gab in seinem Vortrag einen Einblick in seine Arbeit zur russischen Pressefotografie von der Jahrhundertwende über die Oktoberrevolution 1917 bis in die 1920er Jahre. Er ging sowohl auf die Herstellung als auch auf die Vermittlung von Bildern in der illustrierten Presse und auf deren Wahrnehmung durch die Leserschaft ein. Der Referent ging dabei oft weniger direkt von den Bildern aus, sondern erschloss sich über zusätzliches Material den Kontext, in dem die Fotografien entstanden und publiziert worden waren. Entsprechend setzte er keinen thematischen Schwerpunkt auf ein bestimmtes fotografisches Genre, sondern widmete sich den allgemeinen Entwicklungen der illustrierten Presse und der Pressefotografie.
Stolarski skizzierte in seinem Vortrag, wie illustrierte Zeitschriften im Zarenreich darum bemüht waren, ein Bild des Zeitungslesens als entspannende Freizeitbeschäftigung zu konstruierten und wie groß die Leserschaft war, die sie erreichten. Dabei betonte er die enge Verbindung von illustrierter Presse und Konsum. Die Herausgeber der Illustrierten hätten damit geworben, dass ihre Druckerzeugnisse dem Leser objektive Informationen lieferten. Stolarski zufolge sei ein Grund für die immer wieder unterstrichene „Objektivität“, die sich bis 1917 nicht nur in Texten niederschlug, sondern auch in eine visuelle Bildsprache übersetzt wurde, dass sich objektive Bilder besser verkauften. Die Frage nach dem Verhältnis von Pressefotografie und Objektivität griff nicht nur der Kommentar von Lenka Fehrenbach (Basel) auf, auch in der Diskussion wurde dieses Spannungsfeld immer wieder angesprochen. Es wurden diskutiert, inwieweit russische Pressefotografien von Propaganda, Zensur oder Retuschen betroffen waren. Weitere Themen waren die Schwierigkeiten, mit denen Historiker zu kämpfen haben, wenn sie versuchen, sich den Abläufe innerhalb einer Redaktion zu nähern, an deren Ende der Druck einer Zeitschrift steht oder wenn sie Informationen über die Wahrnehmung der Leserschaft bekommen wollen.
PD Dr. Andreas Renner (Heidelberg) erläuterte in seinem Vortrag ausführlich, wie er sich das Medium der Fotografie als historische Quelle erschlossen und die Fotografie des russischen Generals Stessel und seines japanischen Gegenspielers Nogi aus dem russisch-japanischen Krieg 1904/05 zum Sprechen gebracht hat. Nach einer Einordnung der Fotografie in ihren historischen Kontext und der Beschreibung, wie er überhaupt von der Existenz eines solchen Bildes erfahren hat, stellte Renner sein „Neunerschema“ vor, das er speziell für die Analyse von Fotografien entwickelt hat. Mithilfe dieses Schemas, das an den Analysedreischritt des Kunsthistorikers Erwin Panofsky anknüpft, untersucht Renner ausgehend von der Herstellungs-, Bild- und Publikumsebene einer Fotografie deren technische und kompositorische Dimensionen sowie deren Wirkung. Dieses überzeugende Analyseschema bietet all jenen eine hilfreiche Basis, die mit Fotografien als historischen Quellen arbeiten möchten – ganz unabhängig von Thematik und Genre. Als inspirierend für seine eigene theoretische Auseinandersetzung mit der Fotografie nannte Renner den französischen Philosophen Roland Barthes. Barthes habe erkannt, dass sich die Fotografie nicht auf die ihr inhärenten kulturellen Codes reduzieren lasse. Nach Barthes müsse man dieser vielmehr zugestehen, dass sie sich von der Malerei in einem entscheidenden Punkt unterscheidet: in der Tatsache, dass das abgebildete Objekt im Augenblick der Aufnahme tatsächlich anwesend war. Eine Fotografie zwar nicht als objektives Abbild eines Sachverhalts zu sehen, aber als Bezeugung eines vergangenen Augenblicks, hält Renner für einen ganz besonderen Kunstgriff Barthes’. Renner betonte, dass es für Historiker nicht darauf ankomme, die philosophische Frage zu entscheiden, ob Fotografien konstruierte Artefakte seien oder objektive Abbilder der Realität. Entscheidend sei, dass Fotos von den Zeitgenossen als realistisch und objektiv gelesen wurden, und dass sich durch Fotografien eine scheinbare Gewissheit vermitteln lässt, wie sie sprachlich nicht herstellbar ist.
In Ihrem Kommentar wies Nadine Freiermuth-Samardžič (Basel) auf die Problematik der Zensur von Kriegsfotografien im Allgemeinen und der Rezeptionsgeschichte des untersuchten Portraits hin. Ob die von einem japanischen Militärfotografen aufgenommene Fotografie, die japanische Sieger und russische Besiegte nach der Schlacht von Port Arthur zeigt, in einem Zusammenhang mit General Stessels Ansehensverlust nach Kriegsende und seiner Anklage wegen Hochverrats steht, musste offen bleiben. Renner fand in seinen Ego-Dokumenten zwar hinweise darauf, dass die Fotografie unter russischen Militärs bekannt war, die russische Presse scheint das Bild jedoch nicht thematisiert und verbreitet zu haben. Die anschließende Diskussion kreiste v.a. um inhaltliche Fragen wie die unterschiedliche bildliche Inszenierung des Kriegsgegners in den jeweiligen nationalen Medien. Erzählen Fotografien vom russisch-japanischen Krieg von Kriegsphotographen unterschiedlicher nationaler Herkunft auch unterschiedliche Geschichten des Kriegsgeschehens, und wie frei konnten sich die Journalisten im Frontgebiet überhaupt bewegen? Inwiefern beeinflussten die Kriegsfotografien des russisch-japanischen Krieges das positive Japanbild und das Interesse für die japanische Kultur des russischen und westeuropäischen Bildungsbürgertums? Diese Fragen nach der konkreten Arbeitspraxis internationaler Kriegsphotographen vor Ort und nach einem möglicherweise unterschiedlichen Blick auf das Geschehen mussten an dieser Stelle offen bleiben und würden einen interessanten Gegenstand für eine neue Untersuchung bilden.
Den letzten Vortrag hielt Dr. Oksana Sarkisova (Budapest). Sie präsentierte Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojekts zu Familienfotografie und Erinnerung, das sie mit ihrer Kollegin Olga Shevchenko bearbeitet. Die beiden Forscherinnen führten Interviews mit Mitgliedern von 54 Familien aus fünf Regionen der Russischen Föderation (Moskau, St. Petersburg, Rostov am Don/Novočerkassk, Vladimir und Samara) und befragten verschiedene Generationen zu Bildern aus deren Familienarchiven. Sie nutzten unterschiedliche Methoden, beispielsweise der Ethnographie, Medienwissenschaften, Geschichte und Soziologie, um die riesige Menge an Material zu bewältigen (330 Stunden Interviewaufnahmen und etwa 12.000 Digitalbilder von Familienfotografien).
Im Unterschied zu den anderen drei Projekten ermöglichte die Arbeit mit Oral History den beiden Forscherinnen einen weiteren Aspekt von Fotografien hervorzuheben: die Verzahnung von mündlicher Überlieferung und visueller Nachricht. Sarkisova machte deutlich, wie bestimmte Narrative die Ordnung der Fotoalben festlegen, wie aber gleichzeitig ein einziges Bild als Grundlage für unterschiedliche Narrative dienen kann. Je nach Generation verbanden die Interviewten andere, manchmal gar konträre Ereignisse mit einer Abbildung. Diese potenzielle Offenheit von Fotografien für die Interpretation der Betrachter war einer jener Punkte, der in den unterschiedlichen Diskussionen des Workshops immer wieder aufgegriffen wurde.
Kommentiert wurde der Vortrag von Aglaia Wespe (Basel), die unter anderem die Frage stellte, was Historiker mit Fotografien machen können, wenn der Zugang über die mündliche Überlieferung nicht mehr zugänglich ist. Entgegen der provokanten Frage, ob Bilder in diesem Fall nicht ihren Nutzen verlören, plädierte Sarkisova dafür, einen anderen Zugang zu wählen, um sich über zusätzliche Quellen den Kontext der Abbildungen zu erschließen.
In der Diskussion, die fließend in die von Prof. Dr. Benjamin Schenk (Basel) moderierte Abschlussdiskussion überging, thematisierten die Teilnehmer/innen das Potential von „close reading“ oder genauer „close watching“ für die Arbeit mit Bildquellen. Durch genaues Hinsehen und eine detaillierte Bildbetrachtung könnten Historiker verhindern, in den Bildern nur das zu sehen, was man darin aufgrund von Kontextwissen oder einem speziellen Erkenntnisinteresse suche. Ein weiteres Ergebnis des Workshops war die Feststellung, dass bei der Arbeit mit Fotografien der Vergleich eine zentrale Rolle spielt. Immer sollten mehrere Bilder untersucht und gegeneinander gelesen werden. Auf diese Weise könnten Fotografien auch dann noch zum Sprechen gebracht werden, wenn dem Historiker nur wenige Informationen über den Entstehungszusammenhang der Aufnahme vorlägen. Immer wieder wurden in der Diskussion die Schwierigkeiten deutlich, welche die Arbeit mit Fotografien als historische Quellen mit sich bringt. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass Fotografien Einblicke in Bereiche eröffnen, die Schriftquellen nicht liefern können – nämlich wie historische Akteure die sie umgebende Welt gesehen, interpretiert und geordnet haben.
Obwohl in den Diskussionen immer wieder die Schwierigkeiten der Beteiligten spürbar wurde, mit fehlenden Informationen über Urheberschaft, Kontext oder Inhalte der Bilder umzugehen, wollten sich die Teilnehmer/innen davon in ihrer Arbeit nicht entmutigen lassen: „Don’t give up!“, lautete denn auch das couragierte Postulat Sarkisovas.