Polen und Litauen 2023 – Auf den Spuren der jüdischen Geschichte in Polen und Litauen
Direkt nach den letzten Semesterprüfungen startete die Reise samstags um 5:00 Uhr in Basel am Badischen Bahnhof. Die lange Zugfahrt sollte uns an einem Tag bis nach Warschau bringen. In Berlin, während eines zweistündigen Aufenthalts, durften wir uns in einem nahegelegenen Park, umgeben von den Mauern des ehemaligen Moabiter Zellengefängnisses, bereits den ersten Inputvortrag von zwei Studentinnen über die jiddische Sprache anhören. Für viel mehr reichte die Zeit allerdings nicht, bald schon ging die Reise weiter. Ohne Klimaanlage, jedoch mit guten “Pierogi” verpflegt, fuhr uns der polnische Zug ohne Zwischenfälle pünktlich nach Warschau.
Der einzige Tag in der polnischen Hauptstadt wurde effizient genutzt. Nach einem studentischen Einführungsvortrag über die Entstehungsgeschichte des POLIN-Museums besuchten wir dieses im Anschluss mit einer detailreichen Führung. Wir wurden durch enge und weite Gänge der Ausstellungsarchitektur geführt, die das Befinden der jüdischen Bevölkerung in den unterschiedlichen Phasen der Geschichte Polens symbolisieren sollen. Nachmittags führte uns eine kundige Mitarbeiterin des Museums durch die Stadtteile Wola und Muranów, in denen sich vor dessen Zerstörung am Ende des 2. Weltkriegs das jüdische Ghetto befunden hatte. Der Rundgang endete auf dem jüdischen Friedhof, auf welchem viele bekannte Persönlichkeiten begraben sind und über welchen in einem weiteren studentischen Inputreferat berichtet wurde. In der darauffolgenden Schlussdiskussion wurde lebhaft über die Gestaltung des POLIN-Museums und unsere dortige Führung diskutiert. Unter Anderem interessierte uns die Rolle des Ministeriums für Kultur und nationales Erbe, welches hinter dem POLIN-Museum, sowie weiteren Museen steht und dessen gegenwärtiger Präsident Piotr Gliński 2015 von der aktuellen PiS-Regierung eingesetzt worden ist.
Bereits am Folgetag verliessen wir Warschau und fuhren mit dem Zug weiter in die Provinzstadt Białystok im Nordosten des Landes. Nach dem sehr programmintensiven Sonntag gestaltete sich dieser Tag etwas entspannter. In der Bar Mleczny war die Auswahl des Mittagsmenüs zwar von sprachlichen Schwierigkeiten geprägt, das Essen war jedoch authentisch und gut. Unter dem strengen Blick von Jozef Piłsudskis Statue hörten wir auf dem zentralen Platz einen studentischen Vortrag über sein Leben und seine politische Bedeutung für Polen in der Zwischenkriegszeit. Erfrischt durch ein Eis folgte ein weiterer Vortrag auf den Stufen der Gelateria. In einem nahegelegenen Park, konnten wir uns sogar mit einigen Fitnessübungen vergnügen und hörten anschliessend das nächste Referat. In einer Art Biergarten wurde das Tagesprogramm mit einer letzten Präsentation abgeschlossen.
Der Dienstag hatte es in sich: Wir trafen Tomasz Wiśniewski, Historiker und Aktivist, der sich seit vielen Jahren für das lokale Erinnern des jüdischen Lebens in und um Białystok einsetzt - ein Prozess mit vielen Hürden. 1981, während des Kriegsrechts in der Volksrepublik Polen, war Wiśniewski aufgrund seines politischen Engagements zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Während dieser Zeit stiess er in der Gefängnisbibliothek auf Berichte über die jüdische Geschichte seiner Stadt und begann, sich nach seiner Freilassung für die Erinnerung an dieses weitgehend verdrängte Kapitel der Stadtgeschichte zu engagieren. Während eines Stadtrundgangs von gut sechs Stunden führte er uns zu Denkmälern und Erinnerungsorten und erläuterte uns die bisherigen Erfolge seiner Arbeit. Besonders eindrucksvoll war der Besuch des zentralen Stadtparks, der nach dem Krieg auf einem überschütteten jüdischen Friedhof angelegt wurde. Auch Wiśniewskis kleines, mit vielen Exponaten gefülltes Museum machte Eindruck - ebenso wie der durch ihn realisierte Film, in dem mittlerweile verstorbene Zeitzeugen des 2. Weltkriegs über ihre Erlebnisse berichten. Wären diese Erinnerungen ohne sein Forschen für immer verloren gegangen?
Ein anschliessender Besuch auf dem jüdischen Friedhof war eindrücklich und abenteuerlich zugleich. Die zahlreichen Grabsteine werden laufend restauriert - ein Projekt, welches ebenfalls von Tomasz Wiśniewski geleitet wird. Das Unerwartete passierte jedoch erst zum Schluss: Der Friedhof schloss, während wir noch in Ruhe dessen Grabsteine studierten. Daher mussten wir alle entweder über das Tor oder über die Mauer klettern, um rauszukommen.
Eingeleitet durch das Inputreferat eines Kommilitonen besuchten wir dann am Nachmittag das Muzej Pamięci Sybiru, das über die zaristischen und sowjetischen Deportationen der polnischen Bevölkerung nach Sibirien aufklärt. Der Leiter der Besucherabteilung des Museums, Piotr Popławski, erklärte uns hoch motiviert die Exponate und das Konzept des Museums. Die Kälte innerhalb der Räume löste kontroverse Diskussionen unter uns aus… Soll man darüber lachen, schockiert sein oder sich ärgern? Oder ist das Museumskonzept an diesem Punkt ausgesprochen raffiniert? Das intensive Tagesprogramm wurde in einem Café mit einer rückblickenden Schlussdiskussion beendet. Bei all dem, was passiert war, ist es nicht erstaunlich, dass diese bis um Mitternacht dauerte.
Tykocin - ein Dorf mit noch vorhandenem Shtetl-Charakter. Selbst die Synagoge steht noch, wenn auch lediglich als Museum. Mit sachkundiger Führung eines ortsansässigen Guides erkundeten wir neben der Synagoge, die katholische Kirche und die Burg aus der Zeit des Grossfürstentums Litauen. Ergänzend hörten wir danach noch ein studentisches Inputreferat zum jüdischen Leben im Städtchen Tykocin, welches heute rege von israelischen Reisegruppen besucht wird.
Die Gedenkstätte Łopuchowo am Ort des «Massakers von Tykocin», bei dem Ende August 1941 fast die ganze jüdische Bevölkerung des Ortes ermordet wurde, war nicht leicht zu finden. Entsprechende Hinweisschilder waren kaum, und wenn, nur sehr versteckt vorhanden. Trotzdem fanden wir schliesslich den Weg dorthin. Die Unzugänglichkeit und die verwachsenen und durch ein einfaches Geländer markierten Massengräber hinterliessen einen traurigen Eindruck. Entsprechend bedrückt war die Stimmung während des Vortrags unseres Kommilitonen über eine Person, die diese grausame Massenvernichtung überlebt hatte. Der anschliessende Besuch des Friedhofs in Knyszyn erfolgte im Eiltempo aufgrund der dominanten Anwesenheit von Mücken. Somit endete auch unser Tagesprogramm etwas früher als geplant.
Der Donnerstag startete mit einem frühen Morgenspaziergang zum Busbahnhof, wo uns ein hübsch bemalter Flixbus mit nach Vilnius nahm, ins geographische Herz Europas. Nachmittags führte uns die Leiterin der Aussenstelle des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Dr. Dovilė Bataitytė, in die Innenstadt. Beim Vilnius 200 Years Ago Pavilion, einem Relief des Stadtbildes vor 200 Jahren, begrüsste uns spontan Rokas, ein selbstbewusster und geschichtsbewanderter Student der Universität Vilnius, der sich spontan als Stadtführer anbot. Begeistert erzählte er uns über das mittelalterliche Vilnius und diskutierte engagiert mit Dovilė und uns über umstrittene Fragen der litauischen Geschichte. Abschliessend hörten wir noch ein Inputreferat über die jüdische Köchin Fanja Lewando, die in den 1920er Jahren ein vegetarisches Restaurant in Vilnius eröffnet hatte, das internationale Bekanntheit erlangte. Zwei Stolpersteine erinnern heute an sie und ihren Ehemann, die beide im Holocaust umgekommen sind. Überliefert hat sich eine überarbeitete und modernisierte Form ihres vegetarischen Kochbuchs.
Mit dem Zug ging es am Freitag in den Vorort von Vilnius Paneriai. Hier wurden zwischen 1941 und 1944 etwa 200’000 litauische Jüdinnen und Juden und andere Opfer des NS-Regimes systematisch ermordet. Die Gedenkstätte Panerių Memorialas ist gross, mehrere Denkmäler verschiedener Opfergruppen erinnern an die hier ermordeten Menschen. Mantas Šikšnianas, Doktorand der Geschichte und Leiter der Gedenkstätte, erzählte uns über die unterschiedlichen Gedenksteine, ihre Entstehung, sowie die dahinterstehenden Interessensparteien und nicht zuletzt über die Ereignisse, die sich an diesem Ort zugetragen haben. Während der knapp drei Stunden, die wir dort verbrachten, begegneten wir keinen weiteren Besucher:innen - weder Einzelpersonen, noch Reisegruppen, noch Schulklassen.
Am Nachmittag stellte uns die Historikerin Dr. Milda Jakulytė-Vasil am Litauischen Institut für Geschichte das im Entstehen befindende Museum “Lost Shtetl” vor, das in einem guten Jahr eröffnet werden soll und dessen Konzept sich am POLIN-Museum in Warschau orientiert. Wieder entfachte dies eine Diskussion um die Art der Umsetzung eines Museums und dessen Bildungsauftrag in der Gesellschaft. In seinem anschliessenden Vortrag berichtete Prof. Dr. Darius Staliūnas über die Phasen der Aufarbeitung der jüdischen Geschichte in Litauen und über Vilnius auf den Mental Maps unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen.
Viel Laufen war am Samstag angesagt. Der Morgen und der Mittag wurden von einer Stadtführung beansprucht, geleitet durch Dr. Dovile Troskovaite, Historikerin und Expertin für jüdische Geschichte an der Universität Vilnius. Eine Synagoge, das Gründungsgebäude der wichtigen jüdischen Institution YIVO, ein typischer Hinterhof, einige Erinnerungsorte sowie der Standort einer nicht mehr bestehenden Synagoge sind nur ein Teil der Dinge, die wir während dieser Führung zu sehen bekamen. Dazu haben wir auch sehr viel Neues über die jüdische Geschichte von Vilnius gelernt. Nachdem diese ausgesprochen spannende Führung zu Ende ging, war der kollektive Hunger gross. Dieser wurde rasch an einem israelischen Street Food - Stand gestillt. Trotz fehlender Hebräischkenntnisse beim Personal war dieses Mittagessen erstaunlich authentisch israelisch. In der Nähe der israelischen Imbissbude befindet sich das “Green House”, ein emotional belastendes Museum über die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung von Vilnius. Einige Teilnehmende besuchten dieses nach dem Mittagessen freiwillig, während sich der Rest der Gruppe ausruhte.
Im Laufe des Nachmittags vereinte sich die Gruppe wieder, um alle studentischen Vorträge zu hören, welche bis dahin nicht gehalten worden waren. Da es drei an der Zahl waren, und es nach jedem Vortrag noch eine kleine Diskussion gab, beanspruchte dies den ganzen Rest des Nachmittags. So mussten wir uns danach beeilen, um das Abschlussessen pünktlich starten zu können. Dieses fand in einer Halle statt, in welcher man an zahlreichen Ständen verschiedene, sehr unterschiedliche Gerichte bestellen konnte. Für uns waren zwei Tische reserviert, damit wir dort auch alle zusammen essen konnten. Zeitgleich fand am gleichen Ort das “Pink Soup Fest” statt - Ein Festival von rosaroten Suppen (aus Randen), wie es der Name schon erklärt. Für uns mag eine rosarote Suppe zwar seltsam klingen, in Litauen und im ganzen Baltikum sind diese kalten Suppen im ganzen Sommer ein beliebtes und erfrischendes Gericht.
Gesättigt durch das Essen fand in einem Café in der Altstadt noch eine letzte Schlussdiskussion statt, bevor wir zum informellen Abschluss der Exkursion übergehen konnten. Zu später Stunde, als auch die Diskussion zu Ende war, gingen wir in eine nahegelegene Bar, wo wir auf die Reise voller neuer Eindrücke und mit einer super tollen Gruppe anstossen konnten. Einige Teilnehmende wollten auch danach noch nicht ins Bett, und erst in den Morgenstunden war das Programm dann wirklich für alle beendet. Während ein kleiner Teil der Gruppe zurück in die Schweiz flog, reiste die Mehrheit der Gruppe in verschiedene Richtungen individuell weiter oder zurück nach Hause.
Bericht von Leandra Simčič und Jonatan Mangold; Fotografien von Katja Gribi, Jonatan Mangold, Sümeyya Kara und F. Benjamin Schenk