Ein Imperium wird vermessen: Kartographie, Wissenschaftstransfer und Raumerschließung im Zarenreich (1797-1919)

Dissertationsprojekt von Martin Jeske an der Universität Basel, martin.jeske@clutterunibas.ch unterstützt von 

Frithjof Benjamin Schenk

Finanziert durch die Swiss National Science Foundation (SNSF)

Beginn: 01. Apr 2015 - Abschluss 31. Mar 2018

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie auf der Website des FNS.

Gegenstand des Forschungsprojektes ist die Geschichte der topographischen Vermessung und kartographischen Erschliessung des Russländischen Reiches im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die geodätische Erfassung des grössten Landes der Erde, an der zahlreiche staatliche und wissenschaftliche Institutionen mitwirkten, wird als Aspekt der Territorialisierung Russlands verstanden und hinsichtlich der Bedeutung von Wissenschaftstransfers aus dem westlichen Europa untersucht. Wie alle anderen europäischen Staaten sah sich Russland seit dem späten 18. Jahrhundert mit der Aufgabe konfrontiert, geographischen Raum wissenschaftlich zu erfassen und das eigene Staatsgebiet als „Territorium“ zu erschliessen und zu kontrollieren. Welche Bedeutung dabei der Vermessung und Kartographie zukam, will das Forschungsprojekt untersuchen.

Das Vorhaben versteht sich als Beitrag zur vergleichenden Imperiengeschichte, die sich seit kurzem verstärkt mit Formen imperialer Selbstbeschreibung und der Wahrnehmung und Repräsentation imperialer Räume befasst. Die topographische Karte als zeitgebundene Repräsentation von geographischem Raum wird dabei als eine besondere Form imperialer Selbstbeschreibung verstanden. Das Forschungsprojekt untersucht, welche Institutionen mit welchen Motiven an der Vermessung und kartographischen Erschliessung des Zarenreiches mitwirkten, welche Regionen als erstes in das Blickfeld der Vermesser gerieten, welcher „Sprache“ sich die Kartographen bei der Darstellung des vermessenen Raumes bedienten und welche Rolle dabei ausländischen Vorbildern zukam. Die Analyse zielt auf die Frage, ob es der Zarenregierung letztlich gelang, ein umfassendes, auf Vermessungsdaten basierendes Kartenbild des ganzen Reiches zu erstellen, bzw. welche Prozesse diesen Teilaspekt der Territorialisierung des Reiches behinderten. Insbesondere die Konkurrenz zwischen militärischen und zivilen Behörden erschwerte offenbar die koordinierte topographische Bestandsaufnahme, sodass die Generierung eines einheitlichen und zuverlässigen Kartenbildes des gesamten Russländischen Reiches erst ab 1919, nach dem Sturz des ancien régime, realisiert werden konnte. Aus welchen Gründen dieses so wichtige Projekt der imperialen Raumerschliessung scheiterte, soll im Rahmen des Forschungsprojekts näher untersucht werden. Die Studie erfolgt dabei in drei Schritten: Erstens werden die Aktivitäten und Zielsetzungen der an der Vermessung beteiligten staatlichen und wissenschaftlichen Institutionen und deren Kooperationsbemühungen bzw. Konkurrenzverhältnis vergleichend analysiert. Zweitens sollen Wege und Formen des Wissenschaftstransfers auf dem Gebiet der Geodäsie und der Kartographie aus einer biographischen und prosopographischen Perspektive rekonstruiert und in diesem Kontext nach Motiven für die Übernahme, Aneignung und Verbreitung westlicher Vermessungsmethoden und nach der Funktionsweise entsprechender wissenschaftlicher Netzwerke gefragt werden. Drittens werden ausgewählte Landkarten als Medien imperialer Selbstbeschreibung untersucht und nach ihrer Bedeutung für den Prozess der Territorialisierung im Russländischen Reich befragt.