Lenins Zug. Die Russische Revolution und die Schweiz.
Am 9. April 2017 wurde zum ersten Mal überhaupt eine Kooperations-Veranstaltung der Lehrstühle für Osteuropäische Geschichte der Universitäten Basel, Bern und Zürich durchgeführt. Anlässlich des 100. Jahrestages der Abfahrt des sogenannten „Lenin-Zuges“ von Zürich nach Petrograd wurde am vergangenen Sonntag in Zürich in verschiedenen Formaten ein öffentlicher Dialog über Geschichte geführt.
Programmflyer "Lenins Zug. Die Russische Revolution und die Schweiz."
Interessierte Personen waren eingeladen, an den Kurzvorträgen der LehrstuhlinhaberInnen teilzunehmen und sich in der anschliessenden Diskussionsrunde einzubringen. Das Publikum interessierte besonders die Frage, wie die Geschichte in Russland und Europa verlaufen wäre, wenn Lenin am 9. April 1917 nicht in Zürich den Zug nach Petrograd bestiegen hätte. Des Weiteren fand ein ebenfalls sehr gut besuchtes Podiumsgespräch mit renommierten Historikern aus Russland (Prof. Dr. Alexander Vatlin) und Deutschland (Prof. Dr. em. Karl Schlögel) statt, an dem über aktuelle geschichtspolitische Fragen und die Bedeutung der Russischen Revolution gesprochen wurde. Die Gespräche rückten die Aktualität von historischen Fragen in den Fokus. Unter anderem wurde über die ambivalente Bedeutung der Russischen Revolution zwischen Apokalypse und Utopie diskutiert. Ein Ensemble des Berner StudentInnen Theaters inszenierte im Landesmuseum eindrücklich Zeitdokumente wie Erinnerungstexte von Mitreisenden und verschiedene literarische Verarbeitungen der Zugfahrt. An den Veranstaltungen, die in den Räumlichkeiten des Landesmuseums stattfanden, nahmen insgesamt über 450 Personen teil.
Den Höhepunkt des Tages bildete die Uraufführung des Stücks „Zürich – Petrograd einfach“ des Ensembles Thorgevsky & Wiener. Die Darbietung fand in einem historischen Zug statt, der die Schweizer Strecke (Zürich-Schaffhausen) von Lenins Reise abfuhr. Für eine knappe Stunde war der Zürcher Hauptbahnhof eingenommen vom Geist der Revolution: Nicht nur die Anzeigetafel verwies auf den Extrazug, PassagierInnen und PassantInnen wurden auch per Lautsprecher-Durchsage darauf aufmerksam gemacht. Bereits um 15.05 Uhr konnten die über 300 versammelten Mitreisenden sowie zahlreiche weitere Interessierte auf Perron 8 einer „Rede Lenins“ beiwohnen – im Hintergrund die Dampflokomotive mit Jahrgang 1904 inklusive historischem Rollmaterial. Um 15.29 schliesslich setzte sich der Zug in Bewegung – 100 Jahre nach der Abfahrt des Zuges mit den RevolutionärInnen an Bord.
Im restlos ausverkauften Zug durften die Passagiere einer einzigartigen Inszenierung der Zugfahrt und ihrer Folgen beiwohnen. Das Theaterstück trug seinen Teil zum multiperspektivischen Veranstaltungstag bei, an dem eine breite Palette an unterschiedlichen Sichtweisen auf die historischen Gegebenheiten Platz fand.
Historische Hintergründe
Die Reise Lenins im „plombierten Zug“ von Zürich nach Petrograd (St. Petersburg) im April 1917 gilt als die „berühmteste Zugreise der Weltgeschichte“. Von Stefan Zweig als eine der „Sternstunden der Menschheit“ beschrieben, ranken sich um die Fahrt von Lenin und seinen Begleiterinnen und Begleitern bis heute zahlreiche Mythen. So ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt, wie gross die Gruppe jener Revolutionäre war, die sich 1917 vom Exil in der Schweiz ins russische Petrograd aufmachte und wer sich genau unter den Reisenden befand. Sicher ist, dass ca. 30 Revolutionärinnen und Revolutionäre am 9. April 1917 am Hauptbahnhof Zürich den Zug Richtung Schaffhausen bestiegen, um bei Thayngen / Gottmadingen die schweizerisch-deutsche Grenze zu überqueren. Unter den Reisenden waren neben Lenin und dessen Frau Nadeschda Krupskaja führende Revolutionärinnen und Revolutionäre wie Karl Radek, Grigori Sinowjew und Inessa Armand. Ausser den Bolschewiki waren auch andere sozialistische Gruppierungen, z.B. der jüdische BUND prominent vertreten.
Unter Vermittlung der Schweizer Sozialisten Robert Grimm und Fritz Platten, der die Reisenden begleiten sollte, hatten die Behörden des Deutschen Reiches dem Transport der Revolutionäre über das eigene Territorium zugestimmt. In Berlin begrüsste man Lenins Ziel, die provisorische Regierung in Petrograd zu stürzen und auf einen Separatfrieden mit Deutschland im verlustreichen Ersten Weltkrieg hinzuwirken. Auf ihrer Reise durch Deutschland wurden die reisenden Revolutionäre von zwei deutschen Offizieren begleitet. Die Presse informierte man über den Transport nicht, Kontakte zwischen den Reisenden und der Öffentlichkeit sollte es keine geben. Dass der Zug „plombiert“ war, ist allerdings ein Mythos. Gesichert ist jedoch, dass die Deutschen die Abteile der Revolutionäre zum „exterritorialen Gebiet“ deklarierten und dort weder Personen- noch Gepäckkontrollen durchführten. Ein mit Kreide gezogener Strich auf dem Waggonboden markierte die entsprechenden Bereiche.
Literaturhinweise
ESSAYBAND «1917 REVOLUTION. RUSSLAND UND DIE FOLGEN»
Herausgegeben vom Deutschen Historischen Museum und vom Schweizerischen Nationalmuseum, Sandstein Verlag, 2017 mit u.a. Beiträgen von F. Benjamin Schenk ('Flieg meine Lokomotive, flieg...' Schienen der Macht in der Russischen Revolution, S. 40-53) und Julia Richers (Die Schweiz als Zufluchtsort und Wegbereiterin der Revolution, S. 68-81) siehe PDF unten
Auszug aus dem ESSAYBAND von Prof. Dr. Schenk
Auszug aus dem ESSAYBAND von Prof. Dr. Richers
Catherine Merridale: Lenin on the train. New York, 2016.
Stefan Zweig: „Der versiegelte Zug“ in Sternstunden der Menschheit. Frankfurt /M., 1991
Michael Pearson: Der plombierte Waggon: Lenins Weg aus dem Exil zur Macht. München 1990.
Fritz Platten: Die Reise Lenins durch Deutschland im plombierten Wagen. Berlin 1924.
Hahlweg, Werner: Lenins Reise durch Deutschland im April 1917. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 5 (1957) Nr. 4, 307-333.
Hahlweg Werner (Hrsg.): Lenins Rückkehr nach Russland 1917: Die deutschen Akten. Brill, Leiden 1957.
Film: „Der Zug“ von Damiano Damiani. Italien, Deutschland, Frankreich, Österreich: 1988.