6. bis 8. Juni 2013, Universität Basel, Kollegienhaus

Internationale Tagung

Veranstalter: Frithjof Benjamin Schenk, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Universität Basel; Martin Aust, Abteilung Geschichte Ost- und Südosteuropas, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Tagungsbericht von:
 Henning Lautenschläger, MA-Student Basel. Den Tagungsbericht von H-Soz-Kult finden Sie hier.
E-Mail: h.lautenschlaeger-at-stud.unibas.ch 

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Vom 6. bis 8. Juni 2013 fand an der Universität Basel die interdisziplinäre Tagung „Autobiographische Praxis und Imperienforschung“ statt. Sie stellte die Auftaktkonferenz des vom Schweizerischen Nationalfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projektes „Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken und historischer Wandel in den Kontinentalreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Mitte 19. bis frühes 20. Jahrhundert)“ dar. Dieses von Martin Aust und Frithjof Benjamin Schenk geleitete Forschungsvorhaben geht davon aus, dass die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Hochkonjunktur der Autobiographik in den drei damaligen osteuropäischen Imperien mit den in der gleichen Zeit stattfindenden vielfältigen Wandlungs- und Modernisierungsprozessen in einer engen Wechselwirkung stand. Die Einzelprojekte untersuchen in diesem Rahmen Interpretationen imperialer Herrschaft, Wahrnehmungsmuster imperialer Räume und die Wirkungsmächtigkeiten konkurrierender Konzepte kollektiver Identitäten in den Selbstzeugnissen imperialer Subjekte. [1] 

MARTIN AUST (München) und FRITHJOF BENJAMIN SCHENK (Basel) machten in ihrer Einführung deutlich, dass verschiedene Ansätze der Imperienforschung für die Tagung und das Projekt fruchtbar gemacht und zusammengeführt werden können. So sei es mit dem für Projekt und Tagung gewählten Ansatz zum Beispiel möglich, Diskurse imperialer Selbstbeschreibung, eine situative Analyse der Quellen, autobiographische Praktiken und eine genauere sprachliche Untersuchung der Selbstzeugnisse zu verbinden. Die Tagung sollte letztendlich auch dazu dienen, das Bewusstsein für den Umgang mit diesen Quellen zu schärfen. 

Deshalb brachte die dreitägige Konferenz Wissenschaftler verschiedener Forschungsgebiete und Disziplinen zusammen: Zum einen sollte der Austausch zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaftlern ermöglicht werden, zum anderen Imperienforscher des Russländischen, Osmanischen und des Habsburgerreiches zu einer gemeinsamen ertragreichen Diskussion angeregt werden. Außerdem sollte diese Tagung nicht zuletzt ein Forum für den Austausch zwischen Nachwuchsforschern und etablierten Wissenschaftlern sein. 

Die Tagung ging von drei miteinander verknüpften Erkenntnisinteressen aus: Erstens von dem bewusst gewählten mehrdeutigen Begriff des „imperial subject“, der gleichermaßen auf den Charakter der im Fokus stehenden Autobiographen als Untertanen und als selbstbestimmten Individuen hinweist. Zweitens plädierten die Initiatoren für das von Jochen Hellbeck entwickelte Konzept der „autobiographischen Praxis“, das nicht nur Autobiographien an sich, sondern auch die damit verbundenen kulturellen Praktiken, Umfelder und gesellschaftlichen Wechselwirkungen in den Fokus rücke. Diese beiden Vorüberlegungen sollten in einem letzten Schritt mit dem sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigenden historischen Wandel und der Konjunktur autobiographischer Produktion in den Imperien der Habsburger, Romanovs und Osmanen verknüpft und fruchtbar gemacht werden. 

Das erste Panel näherte sich imperialen Autobiographien von literaturwissenschaftlicher Seite aus. ULRICH SCHMID (St. Gallen) stellte die These auf, dass das Russländische Imperium um 1856 seine „Augusteische Schwelle“ (Herfried Münkler) überschritten habe und in eine Konsolidierungsphase eingetreten sei. Diese sei für das Imperium als Expansionsmacht per definitionem auch eine Krise gewesen. Das bisher vorherrschende Modell der Dienstbiographie habe deshalb durch neu entstehende Prestigeräume Risse bekommen. Gleichzeitig habe unter anderem Alexander Herzens (1812-70) psychologisierende Autobiographie neue Autonomiebereiche des Subjekts erschlossen. Währenddessen bot die imperiale Ideologie aber noch immer Sozialisationsmöglichkeiten. Imperiale Werte und Diskurse seien jedoch durch neue Werte wie etwa denen der Nationalismen ständig herausgefordert worden. 

FRANZISKA THUN-HOHENSTEIN (Berlin) legte in ihrem Vortrag dar, wie sich imperiale Ideologie als Resultat von Familienerziehung auswirkte. Am Beispiel von Autobiographien der 1960er- bis 1980er-Jahre von Kindern der ehemaligen zarischen Elite zeigte sie auf, wie der Epochenumbruch der Revolution von 1918 die Neuordnung der Rahmen- und Entstehungsbedingungen von Biographien nach sich zog. Der ständige autobiographische Rechtfertigungszwang für Kinder der ehemaligen Eliten im neuen System erzeugte standardisierte öffentliche autobiographische Masken. Mit ihnen war es nicht mehr möglich, das für Autobiographien oder Memoiren so typische „gelungene Selbst“ zu konstruieren. In den privaten, nicht für die sowjetische Öffentlichkeit gedachten Selbstzeugnissen jener Generation sei hingegen der politische Umbruch zu einem Symbol für die Verwilderung und Ehrlosigkeit der neuen Gesellschaft geworden. Unter den verschiedenen Strategien des individuellen Umgangs mit dem neuen System sei gerade auch Sprache ein zentraler Punkt gewesen, mit dem man durch Archaismen und Sprachgestus die vorrevolutionäre Zeit virtuell am Leben zu erhalten konnte. 

JENS HERLTH (Fribourg) analysierte die Erinnerungen des polnischen Landbesitzers Tadeusz Bobrowski. Er ging der Frage nach, inwieweit Bobrowski seinen Text als Erinnerungserzählung konstruierte, sein Schreiben theoretisch reflektierte und ob in diesem Text Spuren imperialer Identität zu finden seien. Er kam zu dem Schluss, dass der Autor, dem Ethos der „Nüchternheit“ verpflichtet, sich selbst kaum zum historischen Helden stilisierte, und gleichzeitig seine Provinzialität und Abgeschiedenheit gegenüber wichtigen historischen Entwicklungen betonte. Durch Kurzbiographien anderer Zeitgenossen verweise Bobrowski immer wieder darauf, welche anderen Wege sein Leben hätte nehmen können, unterstrich damit aber zugleich die Richtigkeit der eigenen getroffenen Entscheidungen. 

VOLKER DEPKAT (Regensburg) verwies in seinem Abendvortrag auf die Fruchtbarkeit literaturwissenschaftlicher Methoden für die Geschichtswissenschaften. Erst wenn man Autobiographien als Texte verstehe, könne man sie auch als Quellen richtig deuten, so sein Credo. Gleichzeitig hob er hervor, dass Autobiographien nur ein Ort der Verhandlung von Selbst- und Fremdzuschreibungen und Identitätskonzepten seien und diese sich dort nur dem Anspruch nach als kohärent, aber bei genauer Betrachtung oft durch Widersprüche geprägt, präsentierten. Er wies zudem auf die kollektive Dimension von Autobiographik hin: Diese seien immer auch als Akte sozialer Kommunikation zu verstehen. 

CARLA CORDIN (Basel) eröffnete mit ihrem Vortrag über die autobiographische Praxis von russischen Juristen der Reformgeneration der 1860er-Jahre das Panel zu Autobiographik im Russländischen Reich. Sie machte deutlich, welche Rolle Autobiographien im Kontext des Aushandlungsprozesses zwischen konservativen und reformorientierten Juristen spielten. In den zum großen Teil nach der Revolution von 1905 entstandenen Selbstzeugnissen präsentierten sie sich für kommende Juristen-Generationen, laut Cordin, als Vorbild und grenzten sich gleichzeitig kritisch von Gegenreformen ab.

VICTORIA FREDE (Berkeley) eröffnete in ihrem Vortrag Zugänge zu Autobiographik aus der intellectual history. Sie wies darauf hin, dass Autobiographien ein erster Versuch seinen, Geschichte zu schreiben. Am Beispiel Alexander Herzens machte sie deutlich, dass dessen Autobiographie für Zeitgenossen neue autobiographische Genregrenzen festlegte, während sie für spätere Historikergenerationen bereits Schlüsselfiguren in der Betrachtung seiner Zeitepoche vorgab. Damit demonstrierte sie, dass vorangegangene Historiker die Deutungsangebote dieser Texte oft einfach übernahmen, anstatt sie kritisch zu hinterfragen oder mit alternativen Deutungsangeboten zu ergänzen oder gegenzulesen. Sie betonte damit die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion autobiographischen Quellenmaterials durch Historikerinnen und Historiker. 

DENIS SDVIŽKOV (Moskau) arbeitete eine doppelte Dynamik der 1830er- bis 1860er-Jahre heraus, in der es im Zarenreich sowohl zu einem rasanten Aufschwung von Memoiren kam und sich gleichzeitig die individuelle Wahrnehmung des Imperiums in Selbstzeugnissen stark veränderte. So wurde das Imperium, laut Sdvižkov, Anfang des 19. Jahrhunderts noch stark als gemeinsames Vaterland wahrgenommen und durch einen imperialen Raum, ein ständiges Wachstum und ethnische Vielfältigkeit repräsentiert. Der Dienst für das Reich stand in der Autobiographik im Vordergrund. Zu dieser Zeit habe es drei dominierende Typen von Selbstdarstellungen gegeben: Den Soldaten des Imperiums, den Reisenden und verallgemeinert auch den homo imperii. Gegen Ende der 1850er-Jahre wurden diese Formen der Selbstidentifikation mit dem Imperium unmöglich, da sich die drei oben genannten Idealtypen verändert hatten: Das Bild des Soldaten nationalisierte sich zum Vaterlandsverteidiger, statt des homo imperii wurde die Teilnahme am imperialen Leben häufiger verschwiegen oder man wandte sich in einem neuen Typus der Autobiographie sogar ganz gegen das Imperium als „Völkergefängnis“. 

CHRISTA EHRMANN-HÄMMERLE (Wien) verglich in ihrem Vortrag die autobiographische Praxis von Offizieren und einfachen Soldaten im Habsburgerreich nach 1868. Für Offiziere sei es selbstverständlich gewesen, ihre Memoiren niederzuschreiben; das Genre habe sich zunehmend auch auf Offiziere niedrigerer Ränge ausgeweitet. Ehrmann-Hämmerle argumentierte, dass sich hier Offiziere bewusst als imperiale Subjekte mit einem spezifisch männlich-hegemonialen gesellschaftlichen Führungsanspruch konstituierten. Aus den Selbstzeugnissen einfacher Mannschaftssoldaten gehe hingegen hervor, dass der Militärdienst für bürgerliche Männlichkeitsbilder unterschiedliche Rollen einnahm, da die Zeit im Militär sowohl als „Mannwerdung“ als auch als „Lotterwirtschaft“ empfunden wurde. 

NORA MENGEL (München) ging der Frage nach, inwieweit biographische Lexikaprojekte im Russländischen und im Habsburgerreich auch als Projekte zur Stabilisierung des Reiches angesehen werden können. Sie verglich die Erstellungsprozesse des Biographischen Lexikon des Kaiserthums Österreich (1856–1891) und des Russischen Biographischen Wörterbuchs (Russkij biografičeskij slovar‘) miteinander. Beide Lexika stellten nach Nora Mengel „Fabriken imperialer Narrative“ dar, da in vielen ihrer Artikel imperiale Diskurse neu oder fortgeschrieben würden. 

Die Sektion zum Osmanischen Reich wurde von MAURUS REINKOWSKI (Basel) eröffnet. Er untersuchte die autobiographische Lesbarkeit bürokratischer Korrespondenz anhand der Person Gazi Ahmed Muhtar Paschas, des osmanischen Sonderkommissars in Ägypten zwischen 1885 und 1908. Er legte schlüssig dar, wie auch diese auf den ersten Blick unpersönlichen und stark reglementierten Quellen unter bestimmten Umständen autobiographische Einblicke in die Lebenswelten der schreibenden Personen geben können, aber auch mit welchen konkreten Problemen beim Auswerten dieser Quellen zu rechnen ist. 

MURAT KAYA (Basel) setzte sich mit den Gedankenwelten führender Mitglieder der jungtürkischen Bewegung auseinander. Er unterstrich, dass sich die Jungtürken im Hinblick auf die das Osmanische Reich bedrohenden westeuropäischen Staaten sehr stark einer anti-imperialen Rhetorik bedienten, gleichzeitig aber im Bezug auf das eigene Staatswesen tief in imperialen (wenn auch sich nationalisierenden) Diskursen verwurzelt blieben. 

Das letzte Panel widmete sich Autobiographien im (trans-)imperialen Vergleich. ALEXIS HOFMEISTER (Basel) arbeitete heraus, inwieweit man jüdische Autobiographik in den drei osteuropäischen Imperien vergleichen könne. Er betonte, dass nicht nur westeuropäische, sondern auch originär jüdische Traditionen der Autobiographik bestünden und argumentierte, dass jüdische Autobiographik meist mit einer doppelten Adressierung ausgestattet sei; einer die jüdische und einer die übergreifende imperiale Öffentlichkeit ansprechende. Trotz der spezifischen Lebensumstände der jüdischen Bevölkerung in den drei Imperien halte er deshalb jüdische Autobiographien für transimperial vergleichbar, etwa als kollektive Bildungsbiographik. 

ELKE HARTMANN (Berlin) beschäftigte sich mit osmanisch-armenischer Autobiographik und ihren verschiedenen möglichen Lesarten. Anhand der mehrbändigen Autobiographie des armenischen Revolutionärs Roupen Der Minassian arbeitete sie stellvertretend für ähnliche osmanisch-armenische Quellen heraus, dass diese Selbstzeugnisse bisher nur unter nationalistischen Gesichtspunkten gelesen worden seien, tatsächlich aber in mehrfacher Hinsicht Teil osmanischer Traditionen, Praktiken und Diskurse seien. 

Sie unterstrich die verschiedenen Funktionen armenisch-osmanischer Autobiographik: Viele Selbstzeugnisse seien nicht verfasst worden, um die Deportation und die Vernichtung der Armenier, sondern das Leben vor diesen Ereignissen für die Nachwelt festzuhalten und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Aber auch gerade lokale Eliten und Revolutionäre wie Roupen, welche die Aufstandsgebiete der Armenier vor Ende der Niederschlagungen verließen und sich deshalb dem Druck ausgesetzt fanden, sich für ihre Untätigkeit gegenüber den hamidischen Gewalttaten rechtfertigen zu müssen, schrieben ihre Erinnerungen auf. Hartmann resümierte, dass die Quellenlage insgesamt sehr schwierig sei, da erst in jüngster Zeit begonnen worden sei, armenische Selbstzeugnisse, die meist in Privathand lägen, zu erfassen und zugänglich zu machen. 

In der von Martin Aust geleiteten Schlussdiskussion wurden die gewonnenen Erkenntnisse und Problematisierungen noch einmal verdichtet und zusammengefasst. Im Sinne Volker Depkats machte er sich dafür stark, Selbstzeugnisse als Texte zu lesen, um sie als Quellen auswerten zu können. Er betonte die fließenden Übergänge zwischen Biographien und Autobiographien und zwischen verschiedenen Genres und Formaten. Als weiterführende Aufgaben für das Projekt markierte Aust vor allem die noch intensivere Berücksichtigung des Entstehungskontextes und Umfeldes von Autobiographien und der stärkere Einbezug von visuellen Dimensionen der Selbstverortung, wie zum Beispiel Photographien. 

Benjamin Schenk betonte im Sinne Franziska Thun-Hohensteins die verschiedenen Funktionen, Möglichkeits- und Erinnerungsräume von imperialen Autobiographien, je nachdem, ob sie vor oder nach Zerfall eines Imperiums verfasst worden seien. 

Elke Hartmann beantwortete die Frage, wozu Autobiographien überhaupt nutzbar seien. Auch wenn, wie Volker Depkat einwarf, der Nutzen einer Quelle nicht zuletzt sehr stark von der entsprechenden Fragestellung abhängig sei, argumentierte sie überzeugend, dass es für bestimmte Erkenntnisinteressen wie zum Beispiel der Erforschung osmanischer Alltagsgeschichte zum Teil kaum Alternativen zu Selbstzeugnissen gebe und diese gerade bei der Erforschung von Mentalitäten und Selbst- oder Geschlechterbildern sehr produktiv gemacht werden könnten. 

Guido Hausmann betonte den Nutzen der Quellenart zur Herausarbeitung von Aneignungs- oder Entfremdungsprozessen von Imperien und der Deutungsvielfalt imperialer Geschehnisse in Autobiographien. Wie andere Teilnehmer rief er auch dazu auf, Autobiographien stärker als Mittel transimperialer Kommunikation zu lesen. 

Nicht vollständig geklärt wurde die Frage, inwieweit es eine spezifisch imperiale Autobiographik gebe. Im Hinblick auf diese intensive und diskussionsfreudige Tagung bleibt aber zu hoffen, dass die derzeitig laufenden Forschungsvorhaben und künftige Diskussionen der Lösung dieses Problems einen Schritt näher kommen werden. 

Anmerkung: 
[1] Weitere Informationen via: www.imperial-subjects.ch (12.07.2013).