‹Das Mittelalter ist männlich› - diese Behauptung überzeugt heute auf den ersten Blick weniger als je zuvor. Doch auch nach Jahrzehnten intensiver Frauengeschichtsschreibung dominiert diese Sicht nicht nur weiterhin das allgemeine Geschichtswissen, sondern implizit auch weiterhin viele Ausgangshypothesen (nicht nur) der Mediävistik. Vor vierzig Jahren schrieb Georges Duby, Urheber des Schlagworts vom mâle moyen âge: «Es wird viel von den Frauen geredet. Was weiss man über sie?»
Es steht in den Handbüchern, das Wissen prägt gegenwärtige gesellschaftliche Debatten: Mit dem Mittelalter wurde die monogame Ehe in Europa der soziale und moralische Standard. Warum, woher, wozu diese radikale Beschränkung in einem zentralen sozialen Feld? Kann das stimmen? Kennt das postantike nordwestliche Eurasien vielleicht doch die Polygynie - wo nicht die «Vielehe» (das wäre zumindest im Christentum ein begrifflicher Widerspruch), so doch plurale Paarbeziehungen als sozial bedeutsame Praxis? Und wenn ja: wann, wo, wie und in welchen Kontexten? Das fragt Jan Rüdigers 2015 erschienene Monographie zu Polygynie und politischer Kultur im Mittelalter (englisch 2020). An den 5. Schweizerischen Geschichtstagen in Zürich 2019 veranstalteten wir ein Panel zum Thema: «Viele Frauen haben».
Wie wurde ‹die Ehe› zum zentralen Wissensbestandteil mittelalterlicher und dann moderner Geschichtsbilder und sozialer Selbstbestimmungen? Maria Tranter erforscht in ihren Postdoktoratsvorhaben Diskurse zu Ehe und Geschlecht in England zwischen 800 und 1200 und die Auseinandersetzung mit ihnen im 16. sowie im 18./19. Jahrhundert.
Um Praktiken und Repräsentationen von Frauenherrschaft geht es in zwei Doktoratsprojekten. Teresa Steffenino untersucht an Aurembiaix von Urgell und anderen Herrscherinnen in Katalonien und angrenzenden Regionen der iberischen Halbinsel die Strategien der Kinderlosigkeit. Valerie Muhmenthaler untersucht, wie im Angevinischen Reich (Empire Plantagenêt) des 12. Jahrhunderts Schönheit zur politischen Ressource wurde.