Geschichte geht uns an, weil wir in der Gegenwart leben – und viele Gegenwarten haben sich schon mit Geschichte beschäftigt, sie «gebraucht». Geschichtsforschung kommt also nie ohne Gegenwartsbezüge aus; in manchen Fällen ist Geschichtsgebrauch selber der Untersuchungsgegenstand. Die Mittelalterbilder und die Mittelalterrezeption vergangener Jahrhunderte sind bei uns auch Teil der Mittelalterforschung.
Seit längerem ist die Frage nach regionalen Geschichtskulturen ein Interessenschwerpunkt von Jan Rüdiger. 2010/11 leitete er das vom deutschen Forschungsministerium geförderte Netzwerk «History and Memory - the Regional Dimension» - MEMOREG [PDF dt./engl.], das eine Tagung am Institut für Grenzregionenforschung der Süddänischen Universität Sonderburg veranstaltete, und wirkte am Panel «Welche Regionalgeschichte in Zeiten der Globalisierung?» (3. Schweizer Geschichtstage Freiburg 2013) mit.
Er publiziert zu den Geschichtskulturen Schleswig-Holsteins und des Ostseeraums; aktuell geht es um Bild und Erinnerung von Graf Gerhard III. von Holstein (de grote Geerd/Den kullede Greve) in Mittelalter und Moderne. Der von G.Strenga und C.Heß herausgegebene Band Doing Memory: Medieval Saints and Heroes and their Afterlives in the Baltic Sea Region (19th–20th centuries) ist 2024 im open access bei De Gruyter erschienen.
Sein Beitrag über «Livland und die Welt im 21. Jahrhundert» an der Rigaer Tagung zum 100jährigen Bestehen der Republik Lettland ist auf Lettisch und nun auch auf Englisch publiziert worden: A.Levāns/I.Misāns/G.Strenga (Hg.): Das mittelalterliche Livland und sein historisches Erbe / Medieval Livonia and its Historical Legacy.
Livia Cárdenas (jetzt TU Berlin) beschäftigte sich 2016-2020 bei uns mit der Erfindung eines «helvetischen Mittelalters» in den ästhetischen Kulturen um 1820. Ihre Monographie Imagination Mittelalter ist 2024 im open access bei Wallstein erschienen.
Maria Tranter untersucht bei all ihren Forschungsprojekten immer auch die historiographische Bearbeitung des jeweiligen Themas; so behandelt ihre Dissertation über Freigeistige Begarden unter anderem auch die historiographische Rezeption spätmittelalterlicher Ketzerbilder und die Kanonbildung durch mittelalterliche Quellensammlungen im 18. und 19. Jahrhundert. In ihrem derzeitigen Projekt zu Ehe- und Beziehungsdiskursen des englischen Mittelalters untersucht sie nicht nur zeitgenössische Darstellungen von Ehebeziehungen sondern vor allem auch deren Rezeption und politische Instrumentalisierung in der Historiographie seit dem 16. Jahrhundert. In einem kürzlich erschienenen Aufsatz im Sammelband Beyond the Timeline: Resetting Historiography plädiert sie für mehr Beachtung der Historiographiegeschichte. Daneben interessiert sie sich auch für die Mittelalterrezeption des Basler Germanisten Wilhelm Wackernagel und dessen Beiträge zur Basler Mediävistik im 19. Jahrhundert.