/ Johannes Alisch
Re: Monstra #SongOfTheMonth
Re: Monstra
In der Reihe #SongOfTheMonth berichten wir anhand ausgewählter Nachrichtenlieder einmal im Monat über die Arbeit im Projekt "Macht der Stimme - Vocal Power". Welche Bedeutung haben die Nachrichtenlieder der Frühen Neuzeit? Wie hängen Meldungen und Musik zusammen? Welche Bedeutung hat dabei die menschliche Stimme? Wie werden die Quellen erschlossen? Stay tuned!
Im Sommer des Jahres 1629 erschütterte eine aussergewöhnliche Nachricht die Gemüter im fränkischen Staffelstein, einem beschaulichen Städtchen nahe dem Kloster Banz. Am 20. Juni hatte die Bäckersfrau Maria Kreudlein ein Kind zur Welt gebracht, dessen Anblick die Grenzen des Vorstellbaren sprengte und rasch die Aufmerksamkeit weit über das Hochstift Bamberg hinaus auf sich zog. Eine zeitgenössische Liedflugschrift berichtete damals von einem Neugeborenen mit zwei Köpfen und beschrieb die schweren Missbildungen detailreich: Auf der einen Seite “ein Wolffeskopff mit grossem grauß” und sein Gegenüber, der zweite Kopf, der aussah “wie ein Todtenkopff” - “gar ernstlich sahen sie einander an”. Die Beschreibung des Kindes mutet geradezu surreal an und mischt unter die körperlichen Anomalien grosszügig die Kernsymbole der christlichen Ikonographie. Das Haupt sei "mit mancherley farben durchzogen" gewesen, darauf ein fleischiges Gewächs. An den Händen habe es sechs Finger gehabt, auf dem Leib ein "blutig Schwerd", dazu drei Kreuze "von geronnen Blut". Die Augen hätten "eines guten Dau⸗men breit mit grauß" aus dem Kopf hervorgestanden und wie "rotes Blut" ausgesehen und an der Stelle der Kniescheiben stünden zwei Totenköpfe, gekrönt von roten Kreuzlein. Das Ganze ist durch einenHolzschnitt illustriert.
Die Nachricht aus Staffelstein reiht sich ein in zahlreiche frühneuzeitliche Berichte über sogenannte "Wundergeburten": Säuglinge mit schweren Fehlbildungen, verbundene Zwillinge und anderes mehr fallen darunter, sie stehen in einem größeren Zusammenhang von Berichten über Wunderzeichen, besonders seltene Wetterphänomene und Naturereignisse wie schwere Unwetter, Erdbeben und Unglücksfälle jeder Art.
Die im angelsächsischen Sprachraum gebräuchliche Bezeichnung “monstrous births” verweist dabei etwas freimütiger auf den unheimlichen Schrecken, den derlei Missgeburten ausgelöst haben. Dabei steht weniger das individuelle Schicksal für die Mütter und Familien im Zentrum - in einem gewissem Sinne wurde ständig und überall geboren und gestorben. Und falls nicht gerade die Lasterhaftigkeit der Eltern selbst Anlass der Unbill ist, so findet sich auch für sie ein warmes Wort: “Gott troͤste doch die Eltern sein”. Stattdessen steht in den Liedflugschriften mehr die vieldeutige und mitunter düstere Zeichenhaftigkeit der Missbildungen im Vordergrund, der missgebildete Leib der Kinder wird zur diesseitigen Entsprechung von Gottes Wille und verlangt nach einer Erklärung in diesem Sinne, und eine Zeile göttlichen Trosts verweist eher auf die straftheologische Doppelbindung in der Beziehung zum Jenseits: ER hats gegeben, ER hats genommen.
Im Jahr 1629 tobte auf dem europäischen Kontinent schon seit elf Jahren das Chaos des Dreißigjährigen Krieg, der weite Teile des Heiligen Römischen Reiches verwüstete und die gesellschaftlichen Ordnungen bis ins Mark erschütterte. Die Zeichen standen verbreitet auf “Weltende” - clever, wer als geschäftstüchtiger Drucker mit bewährten Mitteln aus einem verhältnismäßig begrenzten und privaten Schicksal ein apokalyptisches Szenario zu machen wusste. Schließlich verlangte das außergewöhnliche Ereignis nach Erklärungen und naheliegend war nur, dass Gottes Hand selbst in den Alltag hineingreift, unvorhersehbar, strafend, Zeichen setzend.
Ein halbes Jahrhundert zuvor, im Jahr 1580, kursierte eine Flugschrift, die von einer "Erschrecklichen Wundergeburt" in Arnheim aus dem Herzogtum Geldern berichtete. Die Beschreibung des dortigen Kindes liest sich wie ein Katalog des Monströsen - "rauch vnd schwartz" sei es gewesen, mit Füßen "gleich als ein Pfawe", Augen "hell als ein Spiegel glas / gleich wie das Fewer im Ofen / haben sie geleuchtet fast” und einem spitzen Mund "gleich wie ein Reiger oder Kranch" (sic). Als wäre dies nicht genug des Schreckens, hatte das Kind auch noch Hörner und einen Schwanz. Hier haben wir es nun wirklich mit dem Teufel zu tun, jeder realistische Rahmen, der für ein missgebildetes Neugeborenes in Frage kommt, wird gesprengt. Der Autor geht jede Wette mit der Vorstellungskraft seiner Zuhörer ein und setzt am Ende noch ein morbides Ausrufezeichen. Der Ultima Ratio durch einen “rath bedacht” folgend findet das diabolische Wesen, das der Autor vorsorglich als “keins Menschen gestalt” charakterisiert, “zwischen zwey Bette[n]” sein Ende: “(…) darunter thet man es erdruͤcken / vnd must also ersticken / die grausam Geburt und schrecken”.
Gut ein Jahrhundert später, im Jahr 1691 und viele Hundert Kilometer weiter im Osten des Hl. Römischen Reiches meldet eine weitere Liedflugschrift aus Kynau (polnisch: Zagórze Śląskie), Niederschlesien, eine “erschroͤckliche Mißgeburt” mit "drey Koͤpff auf seinem Rucken", der "vier Haͤud aus seinem Leibe gahn" (vier Hände). “[V]ier rechte Fuͤß” vervollständigen das Bild einer fehlgebildeten verbundenen Mehrlingsgeburt. Um den Schrecken abzuwehren, soll das Kind getauft werden und es scheint erstmal alles gut zu gehen, allein: Wo vier Hände und vier Beine sind, da sind auch vier Wunderzeichen nicht weit. Und prompt tropft dem Pfarrer “viel Blut von dem Gewoͤlb herab” auf seinen Rock und beim Verlassen der Kirche öffnet sich der Himmel für ein apokalyptisches Reiterheer, ein “schwebender Säbel” mahnt zur Buße, es würden sich sonst “wie ein Wasserfluth” der Christen Blutströme ergießen und in einer himmlischen Feuerkugel liest man schließlich expressis verbis “Das End ist da”. Dann führen neben einem “schroͤcklichen Cometstern / [...] / abscheulich wie ein Tod⸗ten⸗Baar” zwei Kriegsheere eine blutige Schlacht und der Autor spitzt zum Abschluss zu: “(...) / ach treuer GOTT / behuͤt uns vor der Krieges⸗Plag / komm lieber mit dem Juͤngsten Tag.” Absoluter und endzeitlicher geht es nicht: Die Apokalypse als Erlösung.
Die Häufung solcher Berichte über einen so langen Zeitraum hinweg zeigt, dass “monströse Geburten” ein fester Bestandteil der frühneuzeitlichen Vorstellungswelt waren, Teil einer “shared culture” (vgl. Spinks 2009). Trotz ihrer sensationslüsternen Übersteigerung galten sie als reale Ereignisse für ihr zeitgenössisches Publikum: ”[...] at the time they were reported and discussed as specific, real events. [...] These children [...] were represented and perceived as tangible and immediate [...]” (2009, S. 4). Sie waren in diesem Sinne fleischgewordene Manifestationen göttlichen Zorns und damit perfekte kommunikative Vehikel zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt. Die Missbildungen als solche werden zu diesseits sichtbaren Zeichen der jenseitigen unsichtbaren göttlichen Ordnung, zu einem "Monstrum" im ursprünglichsten Sinne des Wortes.
So heißt es in der Arnheimer Flugschrift von 1580, das monströse Kind sei eine Strafe Gottes für das lasterhafte Leben des Vaters gewesen, der sich dem "Fressen / Sauffen vnd Spielen" hingegeben habe.
Die Staffelsteiner Flugschrift von 1629 geht in ihrer Deutung noch einen Schritt weiter: Als wäre der düstere Dreiklang aus “geronnen Blut”, “Kreuz” und “Todtenköpff” nicht genug, wird dem missgestalteten Kind selbst eine Stimme verliehen - es verkündet die moralische Anmahnung und Warnung: "GOtt schickt mich vmbsonst nicht auff die Welt / ein jedern zum Exempel fuͤrgestelt / durch mich werdet jhr gewarnet schon / man sol von Fluchen vnd schweren ablahn / von Geitz / Pracht / Hoffart auch voran." Das Monster wird hier direkt zum Sprachrohr Gottes, einem Medium, das die Menschen zur Umkehr und Busse aufruft.
Und die Liedflugschrift von 1691 stellt die Wundergeburt als solche ganz in den Hintergrund, sie verblasst fast vollkommen und wird auf ihre Funktion als narrativer Aufhänger reduziert und dient nur noch als diesseitige Verankerung für die vielen folgenden Strophen, in denen das erlösende Weltende heraufbeschworen wird:
Das Geschehen als solches und seine Deutungen verweisen immer auf eine Schwelle zwischen einem dies- und einem jenseitigen Reich, implizieren einen flüchtigen “dritten Raum” zwischen Leben und Tod, bei der das Geschehen weder der einen noch der anderen Seite eindeutig zugeordnet werden kann.
Kein Wunder, dass die Narrative regelmässig an den Stellen der kritischen symbolischen Übergänge eskalieren, sei es bei der Geburt, der Taufe, des (nahenden) Todes oder der Beisetzung.
Aus der Oszillation zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen schöpfen die Deutungen die nötige symbolische Energie, mit der sie schliesslich aus einem relativ banalen Vorkommnis in jede erdenkliche Richtung eskalieren können, seien es den Himmel teilende schwebende Säbel, bluttriefende Gewölbe oder sprechende Neugeborene.
Es ist diese relative Deutungs-Offenheit der Wundergeburten, die das Geheimnis ihres lang anhaltenden Erfolgs im Medium Liedflugschrift erklären könnte, weil sie medial auf diese große Verunsicherung eingehen, auf die plötzliche Unschärfe und zeitweise Verschiebung von ansonsten tief eingeschliffenen Gegensätzen der sozialen Ordnung. In ihrer Vielfalt lassen sie die Raffinesse der Drucker erkennen und illustrieren das Leben, Denken und Fühlen in der Frühen Neuzeit auf ganz besonders eindrückliche Weise.
Literatur:
Neue Zeitung von einer erschrecklichen Wundergeburt welche sich zugetragen im Lande zu Geldern (...). Danzig: Rhode, Jakob, 1580. Online-Ausgabe: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB000102DD00000000
Eine warhafftige Neue Zeitung/ Von zwey frommen Eheleuten: welche im Ehestand auf drey Jahr gelebt/ und kein Kind gezeugt/ als in diesem 1691sten Jahr/ da hat sein Weib ein erschröckliche Mißgeburthh auf die Welt gebohren/ und was sich für grosse Wunder bey der Tauff begeben/ auch was für grosse Wunder-Zeichen an dem Himmel seynd gesehen worden/ wird der günstige Leser in dem Lied zu vernehmen haben. Im Thon: Warum betrübst du dich mein Hertz/ [et]c. Olmitz, 1691. Online-Ausgabe: https://vd17.gbv.de/vd/vd17/75:703265Y
Von einer erschrecklichen Mißgeburt eines Kindes/ so da ist geboren worden in diesem 1629. Jahr/ den 20. Junii im Stifft Bamberg/ in einem Städtlein Staffelstein/ bey dem Closter Bantzen gelegen/ von einem Beckers Weibe/ mit Namen Maria Kreudlein/ und ihr Man[n] Johann Bockberger : wie das Kind gestalt gewesen ... werden fromme Christen in diesem Gesang berichtet werden / Dieses ist von den gantzen Ministerio in offenen Druck zu bringen/ vergönnet und zugelassen worden/ Durch den Ehrwürdigen Herrn M. Paul Langen Predigern daselbst. Im Thon: Gott hat das Evangelium. Hof: Pfeilschmidt, Matthäus, 1629. Online-Ausgabe: http://diglib.hab.de/drucke/qun-564a-9s/start.htm
Spinks, J. (2009). Monstrous Births and Visual Culture in Sixteenth-Century Germany (1st ed.). Routledge. https://doi.org/10.4324/9781315653464