/ Forschung / Jan-Friedrich Missfelder
Noch einmal war es gut gegangen... #SongOfTheMonth
In der Reihe #SongOfTheMonth berichten wir anhand ausgewählter Nachrichtenlieder einmal im Monat über die Arbeit im Projekt "Macht der Stimme - Vocal Power". Welche Bedeutung haben die Nachrichtenlieder der Frühen Neuzeit? Wie hängen Meldungen und Musik zusammen? Welche Bedeutung hat dabei die menschliche Stimme? Wie werden die Quellen erschlossen? Stay tuned!
«Ein hübsch nüw Lied/ von dem Grusamen vnd mordtlichen vberfal/ So die Spangier an der Christlichen Stat Costantz/ In diesem 1548. Jar vff den 6. August begangen hand»
Noch einmal war es gut gegangen. Noch einmal hatten die Bürger der Reichsstadt Konstanz die Belagerungstruppen des Kaisers abwehren können. Noch einmal hatten sie die Annahme des durch Karl V. dekretierten Interim verweigern können. Der Kaiser, der im April 1547 bei Mühlberg in Sachsen gegen die Truppen des protestantischen Schmalkaldischen Bundes triumphiert hatte, versuchte mit diesem Reichsgesetz, die Konfessionsspaltung im Heiligen Römischen Reich in seinem, dem römisch-katholischen Sinne zu beenden. Auch Konstanz hatte auf der Seite der Schmalkaldener gestanden und versuchte auch nach der Niederlage, seine Position als protestantische Reichsstadt zu behaupten. Doch Karl verlor die Geduld, liess spanische Truppen am Seerhein aufmarschieren und verhängte schliesslich am 6. August 1548 offiziell die Reichsacht über die Stadt. Die Spanier unter dem Kommando des neapolitanischen Obristen Alfonso Vivez begannen noch am selben Tag den Sturm auf die befestigte Stadt. Doch eben: Noch einmal war es gut gegangen, aber denkbar knapp. Der Konstanzer Stadtschreiber Jörg Vögeli schildert die entscheidende Situation in seinem Augenzeugenbericht: In letzter Minute war es gelungen, die Zugbrücke zur Stadt vor den heranrückenden Spaniern hochzuziehen. Vor allem aber war das Schiesspulver, dass die Soldaten auf der Rheinbrücke ausgestreut hatte, versehentlich zu früh losgegangen, so dass viele Spanier ihrer eigenen Taktik zum Opfer fielen. Und auch Oberst Vivez hatte es erwischt, der Musketenschuss einer Konstanzer Torwache hatte ihn tödlich getroffen. Und so zogen die Kaiserlichen vorerst wieder ab. Noch einmal war es gut gegangen...
Von all diesen dramatischen Ereignissen berichtet auch das «hübsch nüw Lied/ von dem Grusamen vnd mordtlichen vberfal/ So die Spangier an der Christlichen Stat Costantz/ In diesem 1548. Jar vff den 6. August begangen hand». Die Liedflugschrift ist zunächst einmal ein klassisches Nachrichtenlied, der Aktualität und dem politischen und militärischen Nachrichtenwert verpflichtet, mit präziser Datumsangabe und genauer Schilderung der dramatischen Szenen während der Belagerung bis hin zur vorgeblichen Schwur des kaiserlichen Obristen, er wolle nach der Eroberung keinen Mann, keine Frau und kein Kind in der Stadt am Leben lassen:
«[J]a wyb vnnd kind zverderben / das was gantz ihr bescheyd. Wer jhnen da gerathen / das sy hattend im mut / Constantz wz übergeben / niemands solt blyben laeben / das jung noch alte blut.»
Doch richtet sich das Lied nicht nur an alle News-Interessierten im (vornehmlich) protestantischen Teil des Reiches, sondern auch und vor allem an die unmittelbare Nachbarschaft der Stadt. Denn sein Autor, der sich in der letzten Strophe als «guot gsell / vnuerachtet / von Büren vß Berner land“ zu erkennen gibt, singt nicht nur vom Konstanzer Drama, sondern appelliert vor allem an die politischen Eliten der Eidgenossenschaft. Die Thurgauer Nachbarn, die die Belagerung mitansehen mussten, hätten Truppen zum Entsatz der bedrängten Konstanzer mobilisiert. Vor allem seien die eidgenössischen Orte an der Tagsatzung alarmiert worden, doch ausser warmen Worten und ein paar Solidaritätserklärungen durch die reformierten Glaubensbrüder in der Schweiz sei nicht viel dabei herausgesprungen:
„[V]il glatts tuot man zuosagen / zuoletzt ist nicht vil dran.“
Im Gegenteil: Als Bern den Konstanzern zu Hilfe eilen wollte, sei der eidgenössische Vorort an der Tagsatzung wieder zurückgepfiffen worden. Man wolle nicht in den schwebenden Krieg involviert werden und die Neutralität wahren „biß vff ein wytern bscheid.“ Der gute Gesell aus Büren an der Aare zeigt sich bei all dem erstaunlich gut über die internen politischen Diskussionen an den eidgenössischen Institutionen informiert. Handelt es sich um einen Insider, der die Konstanzer Heldengeschichte aus einer eigenen politischen Agenda pitchen will? An Konstanz hing, so schien es ihm, auch die Sicherheit der Eidgenossenschaft. Die Stadt, da waren sich auch andere politische Analysten des Jahres 1548 einig, ein Einfallstor für den kaiserlichen Aggressor. Wenn Konstanz fiel, dann waren auch der Thurgau, St. Gallen, Zürich und sicher bald auch Bern und Basel nicht mehr vor den imperialen Ambitionen Karls sicher. Nur Bern schien die sicherheitspolitische Notwendigkeit erkannt zu haben, den Konstanzern nach dem Warnschuss vom 6. August zu Hilfe zu eilen:
«Der Bär lat sich nit yrren / er zücht gar frölich dra / witwen vn weysen zbschirmen / vn vnser vatterland. Da wönd wir Got vmm bitten / der geb vns krafft vnd macht /er ha vns nie verlassen / vnd dapffer gfürt vff dstrassen / wider frömbde Adelschafft.»
Geschickt verwebt der Lieddichter und Berner Untertan sein aktuelles Anliegen hier mit der politischen Gründungsmythologie der Eidgenossenschaft. Witwen, Waisen und das ganze Vaterland sind bedroht durch fremden Adel, ganz wie anno 1315 vor Morgarten, anno 1386 bei Sempach und anno 1499 bei Dornach. Das Lied zielt auf den anti-habsburgischen Affekt der Eidgenossen, um aus der konfessionellen Solidarität mit den reformierten Konstanzern eine gemeineidgenössische Abwehrschlacht gegen des Kaisers fremde Vögte zu machen.
Subtiler als die einigermassen brachiale Anspielung auf die helvetische Aversion gegen fremde Adelsherrschaft wird diese Intention allerdings durch die Wahl der Melodie, nach der das Konstanz-Lied zu singen sein soll, untermauert: «Sing man in der wyß wie das Lied von Tholl oder Gennower sc.» Beide genannten Kontrafakturtöne beziehen sich auf Lieder zu Schlachten der jüngeren Schweizer Solddienstgeschichte, auf die Belagerung von Dôle 1479 und die Eroberung von Genua 1507. Beide waren um die Mitte des 16. Jahrhunderts ausgesprochen beliebte Melodievorlagen für Liedflugschriften über die heroischen Taten der Eidgenossen. Nach dem Ton von Dôle oder Genua sollte auch das 1546 gedruckte „Bemunder Lied“ gesungen werden, das den Schlachtensieg bei Ceresole im Piemont („Bemund“) 1544 feierte. Aber damit nicht genug: Dieses Bemunder Lied wiederum war 1546, also nur zwei Jahre vor der Konstanzer Krise, vom Zürcher Drucker Augustin Frieß gemeinsam mit zahlreichen Liedern zu militärischen Exploits der Eidgenossen im Burgunder- und Schwabenkrieg im Druck herausgebracht worden. Wenn nun also 1548 ein „hübsch nüw Lied» im Ton von Dôle oder Genua gesungen werden sollte, klangen dann nicht all diese Lieder den Menschen in den Beizen von Zürich oder Bern ebenso wie den Entscheidern auf der Tagsatzung in den Ohren? Klang nicht im scheinbar aktualitätsbezogenen Nachrichtenlied zum 6.8.1548 die ganze Heldenzeit des eidgenössischen 15. Jahrhunderts mit samt ihrer anti-habsburgischen Ausrichtung mit an?
Genützt hat die vokalpolitische Initiative des Berner Autors gleichwohl nicht viel. Die Eidgenossen hielten still und schickten keine Truppen gegen den Kaiser. Und so konnte Karl V. einen guten Monat später noch einmal gegen Konstanz vorrücken und die Stadt am 13. September 1548 endgültig einnehmen. Seine Rache war fürchterlich: Konstanz wurde radikal rekatholisiert und verlor seinen Status als Reichsstadt. Doch weiter zog der Kaiser nicht, die Eidgenossen blieben verschont. Wieder einmal...
Referenzen / Weiterführende Literatur
Ein hüpsch nüw Lied, von dem Grusamen vnd mordtlichen vberfal, So die Spangier, an der Christlichen Stat Costantz, Jn disem 1548. Jar vff den 6. Augusti, begangen hand. Singt man inn der wyß, wie das Lied von Tholl oder Gennower etc., 1548.
(i) Das Lied liegt in der Staatsbibliothek Berlin unter der Signatur Ye 3491, ausserdem gibt es davon ein Digitalisat
Geiser, Karl, Über die Haltung der Schweiz während des Schmalkaldischen Krieges, in: Jahrbuch für schweizerische Geschichte 22 (1897), 166-249.
Maissen, Thomas, Die Eidgenossen und das Interim. Zu einem unbekannten Gutachten Heinrich Bullingers, in: Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, hrsg. v. Luise Schorn-Schütte, Gütersloh 2005, 76-104.
Vögeli, Georg (Jörg), Der Konstanzer Sturm 1548. Mit ergänzenden Zusätzen aus des gleichzeitigen Chronisten Christoph Schultheiss spanischem Ueberfall der Stadt Konstanz und urkundlichen Beilagen, Belle-Vue bei Constanz 1846.