/ Forschung / Jan-Friedrich Missfelder

Die Sintflut von Sachsen #SongOfTheMonth

Dekoratives Zierstück und Melodie-Angabe, Ausschnitt der der Titelseite des Pamphlets.

In der Reihe #SongOfTheMonth berichten wir anhand ausgewählter Nachrichtenlieder einmal im Monat über die Arbeit im Projekt "Macht der Stimme - Vocal Power". Welche Bedeutung haben die Nachrichtenlieder der Frühen Neuzeit? Wie hängen Meldungen und Musik zusammen? Welche Bedeutung hat dabei die menschliche Stimme? Wie werden die Quellen erschlossen? Stay tuned!

Newe Zeitung / Vnd warhaff⸗ tige Erschreckliche Ge⸗ schicht / von dem grawsamen Wasserguß / so geschehen ist inn dem Land zu Meissen vnnd Böhemen / da es vil Stätt / Flecken vnd Dörffer / auch Leut / Vieh / Getreid / jämmerlich verführt hat / Am Mittwochen nach Laurenti / welcher war der 12. Augusti / in disem 73. Jar / wie jhr hernach hören wer⸗ det / Jnn Gesangs weiß gestel⸗ let. Jm Thon: O Welt ich muß dich lassen / rc. [1]

Am Abend des 12. August 1573 öffneten sich die Himmel. Furchterregende Blitze, krachender Donner und vor allem sintflutartiger Regen ging hernieder auf das Vogtland, das Erzgebirge und weite Teile von Sachsen. Die Flüsse und Bäche vermochten die Wassermassen nicht mehr aufzunehmen, und schon bald traten Mulde, Saale und Elster, alles Nebenflüsse der Elbe, über ihre Ufer, rissen Häuser und Mühlen hinweg und fluteten ganze Bergwerksstollen. Die Flut war die schlimmste seit mehr als 150 Jahren, und noch heute ist an einer Hausecke am Marktplatz von Grimma in Sachsen eine Markierung zu erkennen, die an die Katastrophe erinnert.

Flutkatastrophen wie jene vom August 1573 waren in der Frühen Neuzeit ein beliebtes Mediensujet. Sie stellten gleichsam staple news dar, die in grosser Anzahl relativ günstig auf den Nachrichtenmarkt geworfen wurden. Das zeigt sich auf an dieser Liedflugschrift, die ohne eine elaborierte Titelillustration auskam. Naturkatastrophen verkauften sich als «neue Zeitungen» auch so. Sie waren Ereignisse, welche die Aufmerksamkeit einer sich formierenden Medienöffentlichkeit verdienten, weil sie nicht nur aussergewöhnlich waren, sondern auch lehrreich in moralischer und religiöser Hinsicht. Und so berichtet auch die Liedflugschrift über die «Erschreckliche Geschicht von dem grawsamen Wasserguß» in Sachsen nicht nur detailliert von den Schäden, die das Wasser an Haus, Hof, Vieh und vor allem an Menschenleben angerichtet hatte, sondern gewinnt diesem Geschehen auch einen moralischen Mehrwert ab, der über das reine Interesse am Ereignis hinausweist.

Das Vokalmedium «Liedflugschrift» scheint sich zu diesem Zweck besonders gut zu eignen. Das zeigt sich schon in der Angabe des Tones, nach dem das Lied gesungen werden soll. «O Welt ich muss Dich lassen» ist die um die Mitte des 16. Jahrhunderts protestantisierte Coverversion des Renaissance-Supertunes «Innsbruck, ich muss Dich lassen.» So wird schon auf der Ebene der Melodie eine religiöse Sinnschicht angesprochen, die der Schilderung des Naturereignisses unterlegt wird. Dieser vokalmediale Mehrwert wird besonders deutlich, wenn man die Liedflugschrift mit anderen zeitgenössischen Publikationen zum selben Ereignis vergleicht, etwa mit einer im Oktober des Jahres erschienenen «Gründtlichen und vleissigen Beschreibung der Wasserflut» [2], die ein gewisser Petrus Albinus im Auftrag der Obrigkeit der Bergstadt Schneeberg im Erzgebirge herausbrachte. Während hier primär der materielle und wirtschaftliche Schaden vor mit Blick auf die weitgehend zerstörte montanindustrielle Infrastruktur minutiös dokumentiert wurde, steht in der Liedflugschrift der arme, sündige Mensch als Opfer des Wassers stärker im Mittelpunkt.

In drei Episoden bedient die Liedflugschrift diesen human interest im Angesicht des Todes. Traurig ist die Geschichte einer jungen Braut, die von den Fluten davongetragen wird. Ein Rettungsversuch des Bräutigams schlägt fehl, sie konnten zusammen nicht entkommen, das Wasser war viel zu tief:

«[S]ie theten einan⸗ der ansehen / gar in trawriglichem mut / sie ertrun⸗ cken alle beidt.»

Der nasse Tod herrscht unterschiedslos, Männer, Frauen, Alte und Junge fallen ihm zu Opfer, allein auf dem Marktplatz von Zwickau ertrinken zehn Kinder. Doch es gibt auch wundersame Errettungen. So berichtet die Flugschrift von einem kleinen Kind, das unversehrt in seiner Wiege «auffm Wasser gfahrn sechß Meil», begleitet und beschützt vom Heiligen Geist in Form einer Taube, die sich auf der Wiege niedergelassen habe. Wie schon über Moses in seinem Weidenkörbchen auf dem Nil, wacht also Gott auch hier über ein unschuldiges Kind und sendet seinem Volk damit eine Botschaft:

«Das ist ein Wunderzeichen / es möcht manchem sein Hertz erweichen / mit diesem Kindlein klein.»

Mit der wundersamen Errettung ist der Aufruf zur Herzenserweichung, also zur Busse verbunden. An anderer Stelle ist von einer schwangeren Frau die Rede, die den Fluten entkommen konnte, indem sie sich ganze 32 Stunden an einer Weide festgehalten hatte. Auch hier war Gott selbst gnadenreich am Werk:

«Darumb was GOTt wil behalten / das kan er wol verhalten / da hat er ein Zeichen gethan / an diser schwangern Frawen / welches viel Leut theten schawen / da verwundert sich jederman.»

So wird die Botschaft des Mediums am Ende überdeutlich: Die Flut ist keine Naturkatastrophe, sondern ein göttlicher Kommunikationsakt. Die Liedflugschrift vokalisiert gewissermassen Gottes Willen und übersetzt seine Botschaft in einen menschlich intelligiblen Aufruf zur Busse und Umkehr.

«Wasser / Blut vnd Fewer / vnd ander abendthewer»

werden vom Herrn geschickt, um die Sünden der Christen zu strafen. Eine solche Sicht teilt die Liedflugschrift zur sächsischen Flutkatastrophe von 1573 mit vielen zeitgenössischen Erklärungen aussergewönlicher Naturphänomene in der Frühen Neuzeit, etwa beim Zürcher Chorherren Johann Jakob Wick, der zahlreiche Berichte über Naturkatastrophen, Himmelserscheinungen und allerlei Unglücke sammelte und in ein kohärentes straftheologisches Deutungsmuster integrierte. Gott spricht zu seinem Volk in der Natur, doch erst die Medien vermögen es, diese Kommunikation für alle verständlich zu machen und daraus Handlungsanleitungen abzuleiten. Und so mündet auch diese Liedflugschrift bei aller Klage über Tod und Zerstörung am Ende schlussendlich in eine klare Einsicht:

«Theten wir was wir solten / so thet er was wir wollten».

 

Referenzen

[1]

o.A. (1573) Newe Zeitung / Vnd warhaff⸗ tige Erschreckliche Ge⸗ schicht / von dem grawsamen Wasserguß / so geschehen ist inn dem Land zu Meissen vnnd Böhemen / da es vil Stätt / Flecken vnd Dörffer / auch Leut / Vieh / Getreid / jämmerlich verführt hat / Am Mittwochen nach Laurenti / welcher war der 12. Augusti / in disem 73. Jar / wie jhr hernach hören wer⸗ det / Jnn Gesangs weiß gestel⸗ let. Jm Thon: O Welt ich muß dich lassen / rc., Kröner, Valentin, Schweinfurt, Digitalisat: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN769842623 [04.03.2024]

[2]

Albinus, Petrus (1573) Gründliche und vleissige Beschreibung der erschrecklichen Wasserfluth, welche im Augustmonat dieses lauffenden 1573. Jhars am Schneeberge, der weitberümbten Bergkstadt, im Landt zu Meissen gelegen, grossen schaden gethan hat, Schleich und Schöne, Wittenbergk, Digitalisat: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/105111/1 [04.03.2024]