/ Jan-Friedrich Missfelder

Die Roten Juden kommen! #SongOfTheMonth

Titelholzschnitt einer Liedflugschrift "Von ainer grosse Meng...", 1523

In der Reihe #SongOfTheMonth berichten wir anhand ausgewählter Nachrichtenlieder einmal im Monat über die Arbeit im Projekt "Macht der Stimme - Vocal Power". Welche Bedeutung haben die Nachrichtenlieder der Frühen Neuzeit? Wie hängen Meldungen und Musik zusammen? Welche Bedeutung hat dabei die menschliche Stimme? Wie werden die Quellen erschlossen? Stay tuned!

Was für aufregende News! Aus Venedig, dem Waren- und Nachrichtenhub zwischen Europa und Asien, war am 3. Juni 1596 durch einen Kaufmann, der in die Regionen jenseits des Roten Meeres gereist war, die Nachricht überbracht worden, dass eine gewaltige, aber bisher unbemerkte Militärmacht das mächtige Osmanische Reich von Osten bedrohte. Nicht weniger als drei Legionen von «rothen Juden» seien aufgebrochen, um das Heilige Land der Hohen Pforte zu entreissen. Mit Kamelen, Pantern und über einer Million Soldaten seien sie unterwegs und drohten dem «Türken» mit Vernichtung. Dafür, dass dies «seltzam newe Zeitung» darstellt, weiss der Autor der Liedflugschrift, die noch im selben Jahr 1596 in Wien erschien, erstaunliche Details über den Zug der «Roten Juden» zu berichten. Ihr König stehe in persischem Sold, habe seine Truppen mit «hartem Leder» bekleidet und mit Pfeil und Bogen bewaffnet und führe ein Banner mit einer Jungfrau und einem Windspiel darauf sowie der Losung «Lebendig oder tot». Immer tiefer greift der Autor in die Kiste des zeitgenössischen Exotismus, denn eine andere Kompanie der «Roten Juden» werde von einem König «auß Joponia» angeführt, der seine Soldaten auf «Joponisch manire» ausgerüstet habe. Aber nicht nur Samurai standen offenbar in den Diensten der «Roten Juden». Auch «Timorische Wehren» stehen ihnen zur Verfügung, also die Waffen und Taktiken der Mongolen, die unter «Timur (Tamerlan)» im 14. Jahrhundert bis nach Ostmitteleuropa gestürmt waren. Andererseits bekennt der Autor der Liedflugschrift frei, dass er nicht genau wisse, was von diesen aufregenden Nachrichten zu halten sei: «Gott weiß was dieser Zug bedeut / das wissen wenig Christenleut / von diesen ro⸗ then Juͦden / die hinder dem rothen Meer herkomen», einzig für das Osmanische Reich können das keine good news sein, es gereicht ihnen «zu keinem guten.»

1596 tobte auf dem Balkan und in Ungarn schon seit drei Jahren der sog. «Lange Türkenkrieg», in welchen das Osmanische Reich, die Habsburgermonarchie und eine Reihe kleinerer Herrschaften verwickelt waren. Die Kampfhandlungen bestanden dabei weniger aus offenen Feldschlachten als vielmehr aus einzelnen Belagerungen von Städten oder Festungen, die sich teilweise über Wochen und Monate hinzogen. Die militärische Lage blieb volatil und unübersichtlich und war vor allem aus der Ferne schwer zu beurteilen. Gleichwohl spielte die Lage auf dem ungarischen oder kroatischen Kriegsschauplatz eine grosse Rolle in der zeitgenössischen Medienöffentlichkeit im deutschsprachigen Raum. Zahlreiche Flugschriften versuchten, Leser*innen im Heiligen Römischen Reich und auch in der Eidgenossenschaft über die neuesten Entwicklungen des Krieges auf dem Laufenden zu halten. Davon zeugt auch die zweite, mit der Nachricht über den Auszug der Roten Juden gemeinsam publizierte Liedflugschrift, die im Stil einer Aktualitätsmeldung über einen gewaltigen Sieg des Siebenbürger Fürsten Sigismund Bathory über osmanische Heere berichtet. 50'000 osmanische Soldaten seien dabei getötet, «zwen Wascha», also zwei Heerführer der Osmanen, gefangen genommen und eine Standarte mit dem Bild des Propheten Mohammed darauf erbeutet worden. Es ist nicht ganz klar, um welches Gefecht es in dieser Meldung geht. In der Liedflugschrift wird der 29. Juli als Datum angegeben, aber für diesen Tag ist keine Schlacht dieser Grössenordnung überliefert. Sehr wahrscheinlich fungierte die präzise Datumsangabe primär als Seriositäts- und Aktualitätsmarker, um dem Inhalt des Liedes den Status einer gesicherten Nachricht zu verleihen.

Wie aber passt die Meldung vom Auszug der Roten Juden in diesen Kontext der vorgeblich seriösen Kriegsberichterstattung? Zunächst einmal ist die Nachricht gar nicht so neu. Schon mehr als dreissig Jahre zuvor, 1562, war angeblich in «Constantinopel» (sehr wahrscheinlicher eher in Nürnberg) eine Flugschrift erschienen, die in fast genau gleicher Weise über das Volk der Roten Juden berichtete, die «stracks auffs gelobte Land zuo ziehen» und damit für die Osmanen eine grosse Gefahr darstellen würden. Noch einmal eine Generation früher, 1523, hatte eine andere Flugschrift behauptet, 600'000 «rote Juden» hätten vom Sultan die Rückgabe des Heiligen Landes verlangt und drohten nun mit gewaltsamer Landnahme, falls er dieser Forderung nicht nachkomme. Aber wer waren diese «Roten Juden» überhaupt? In allen drei Flugschriften von 1523, 1562 und 1596 wird angegeben, dass sie «auß dem Gebirg Caspis» kämen, also wohl aus dem Kaukasus jenseits des Kaspischen Meers. Dorthin habe sie, so die Liedflugschrift von 1596, «Keyser Alexander Magnus» eingeschlossen (wie auch immer er das bewerkstelligt haben kann). 1562 wusste man zu berichten, über die Roten Juden sei in den «Historien» zu lesen gewesen, und 1523 wiederum wird vermeldet, sie seien «auß den hindersten Wuesten oder unnden bey Affrica herauß kommen die alweg bißher (so lang sy dann von Jherusalem vertriben Nimand wissent) verborgen gelegen.» Sehr viel Genaues ist hier nirgendwo zu erfahren, aber doch genug, um die «Roten Juden» als mythisches Kriegervolk aus kaum bekannten Gefilden jenseits von hohen Bergen und unüberwindlichen Wüsteneien zu charakterisieren, das offenbar immer wieder einmal seine Isolation hinter sich lässt, um das Gelobte Land aus der Besetzung durch die Osmanen zu befreien.

In der Tat bedient sich das Nachrichtenlied von 1596 ebenso wie seine Vorgängertexte aus einem legendarischen Narrativ, das seit dem hohen Mittelalter in Europa immer wieder neu aktualisiert worden war. Demnach handle es sich bei den «Roten Juden» um die Nachfahren der zehn verlorenen Stämme des Volkes Israel, die gemäss 2 Kö 17,6 vom Assyrerkönig Sargon II. umgesiedelt worden waren. Seither lebten diese umgeben von unüberwindlichen Bergen jenseits des mythischen Flusses Sambation, der an sechs Tagen der Woche so reissend ströme, dass niemand ihn überqueren könne, und nur am Schabbat ruhte (was den durch ihn eingeschlossenen Roten Juden aber auch keine Hilfe war). In der christlichen Überlieferung des Mittelalters wurden die Roten Juden zunehmend in die Apokalyptik integriert und als Unterstützer des Antichrist verstanden. Gerade die Reformatoren um Martin Luther sponnen diesen narrativen Faden zu Beginn des 16. Jahrhunderts weiter und identifizierten die Roten Juden paradoxerweise mit dem von Luther klar als Antichrist markierten «Türken». Denn ein roter Fuchs, der niemand anderes gewesen sei als der Prophet Mohammed selbst, habe ihnen den Ausweg aus dem Gebirge gezeigt, so dass der Auszug der Roten Juden nun das Kommen das Antichrist selbst ankündige.

All dies klingt in der Liedflugschrift von 1596 in der ein oder anderen Weise an, aber eben: Ihr Autor bekennt frei, dass keine Ahnung habe, was all das wirklich bedeute. Denn hier passt einiges nicht mehr ganz zusammen. Hier zeigt der Auszug des mit allen Attributen des Exotischen versehenen Kriegervolks gerade keine apokalyptische Gefahr mehr für die Christenheit an, sondern im Gegenteil für die oft selbst als antichristlich verstandenen Osmanen. Die «Roten Juden» haben in der vokalen Zeitungsmeldung ihren Status als heilsgeschichtlicher Akteur fast ganz eingebüsst und erscheinen vielmehr als ein weiterer, wenngleich überaus mächtiger Player auf dem aussenpolitischen Spielfeld des Langen Türkenkriegs. So zeigt die «warhafftige newe Zeittung» aus Venedig vom 3. Juni 1596, wie im frühneuzeitlichen Mediensystem kaum je trennscharf zwischen hard facts und mythisch-religiösen Inhalten unterschieden wurde. Nachrichtenmedien, gerade vokaler Art, zögerten nicht, aktuelle Ereignisse wie etwa die militärische Lage während des Langen Türkenkriegs – nicht zuletzt um der besseren Verkaufbarkeit willen! – mit solchen Wissensbeständen anzureichern. Dass sich die Roten Juden aber auf diese Weise in die aktuelle Kriegsberichterstattung integrieren liessen, belegt handkehrum auch die anhaltende Präsenz ihrer Legende im kulturellen Gedächtnisraum des späten 16. Jahrhunderts. Und so konnte der Aufbruch der «Roten Juden» immer wieder neu zu breaking news werden, sei es 1523, 1562 oder eben 1596.

Literatur:

  • Von ainer grosse meng unnd gewalt der Juden, die lange zeyt mit unwonhafftigen Wüsten beschlossen und verborgen gewesen, yetzunder außgebrochen und an tag kommen seyn, Dreyssig tagrays von Jherusalem sich nydergeschlagen ... s.l.: 1523. Online-Ausgabe: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00025507-3

  • Zwo warhafftige newe Zeittung / Die Erste / Aus Venedig dis 1596. Jars / den dritten Junij / Wie drey Legion rothe Juͤden / auß dem Gebirg Caspis / hinder dem rothen Meer / je tzund geruͤst herfuͤr kommen / welche Keyser Ale xander Magnus hinder sich im Gebirg verschlos sen gelassen hat / die woͤllen mit Heereskrafft Je rusalem / vnd das gantze Juͤdische Land wider gewinnen vnd einnemen. Jn gesangweiß gestellet / Jm Thon. Stoͤrtzenbecher vnd Goͤdlche Michael ... Wien: Leonhart Nassinger. 1596.

  • Neüwe Zeittung von dem grossen Heer der roten Juden, so auss den Gebirgen, Caspij genant, in Asia herfür kommen : dise Juden nennen sich von den sechs Geschlechten Jsrahel ... s.l.: 1562.

  • Andreas Berger, Stadt ohne Juden? Präsenz und Absenz in der Frühen Neuzeit, Basel 2024

  • Andrew C. Gow, The Red Jews. Antisemitism in an Apocalyptic Age, 1200-1600, Leiden e.a. 1995

  • Rebekka Voß, Entangled Stories: The Red Jews in Premodern Yiddish and German Apocalyptic Lore, in: AJT Review 36 (2012), 1-41