Torben Rigert hat während seines Bachelorstudiums im Frühjahrsemester 2023 ein Auslandsemester an der Jagiellonen-Universität in Krakau in Polen absolviert. Er erzählt im Folgenden von seinen Erfahrungen, die er dort gesammelt hat.
Ich habe während meines Auslandssemesters in Krakau zum einen ein Gespür dafür bekommen, was es bedeutet, für längere Zeit in einem anderen europäischen Land, genauer gesagt in einer mittelosteuropäischen Grossstadt zu leben und nicht bloss Tourist zu sein. Ich habe mir zudem einen besseren Eindruck davon machen können, wie sich die Lebensrealitäten in Polen in der Stadt und auf dem Land gestalten. Da sich auch bei manchen in der Schweiz noch hartnäckig das Bild des „armen Osteuropas“ hält, muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass gerade Polen sich seit dem Fall des europäischen Realsozialismus 1989 und dem EU-Beitritt 2004 enorm entwickelt und eine tiefgreifende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformation erlebt hat. Im europäischen oder gar weltweiten Vergleich gilt Polens jüngere Geschichte deswegen allgemein als „Erfolgsstory“ bzw. Polen aufgrund seiner starken wirtschaftlichen Dynamik als „Boom-Land“. Der Lebensstandard in polnischen Grossstädten hat sich aus diesem Grund in den letzten Jahren sehr an jenen von „westeuropäischen“ Grossstädten angeglichen, während gleichzeitig immer noch ein erheblicher Unterschied zwischen den ländlichen Regionen Polens und den weiter westlich gelegenen Entsprechungen des Kontinents besteht. Auch ist Polen vermutlich eines der ethnisch homogensten und religiösesten Länder, in denen ich jemals gewesen bin, da ca. 95 Prozent der Gesamtbevölkerung auch ethnische Pol:innen sind, von denen wiederum 85 – 90 Prozent sich als römisch-katholisch identifizieren und ihrem Glauben entweder einen relativ hohen oder einen etwas niedrigeren Stellenwert in ihrem täglichen Leben beimessen. Dazu kommen als gegenwärtig grösste Herausforderungen für das Land der Krieg im Nachbarland Ukraine sowie die Nachwirkungen der acht Jahre langen PiS-Regierung, welche zum Zeitpunkt meines Auslandsaufenthalts noch an der Macht war und ähnlich wie in Ungarn und der Slowakei den Staat gemäss den eigenen nationalkonservativen Wertvorstellungen sukzessive umbaute. Kurzum: In Polen war und ist immer etwas los und für eine Zeit lang in einem solch dynamischen europäischen Land zu leben, mit polnischen und internationalen Studierenden in Kontakt zu kommen und mehr über ihren „Background“ zu erfahren bzw. über das, was sie in ihrem Leben bewegt, war eine spannende Erfahrung für mich, die ich nicht missen wollen würde.
Was mein Studium bzw. meine akademische Laufbahn betrifft, so hat mir das Auslandssemester in dieser Hinsicht nur sehr wenige neue Impulse verschafft. Ich habe im Bereich Geschichte insgesamt vier Kurse belegt, welche verschiedene Aspekte der mittelost- und osteuropäischen Geschichte vorwiegend aus der Epoche der Neueren/Neuesten Geschichte behandelten. Konkret waren dies ein Kurs, welcher die moderne Geschichte Polens von den Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit am Ende des Ersten Weltkrieges zum Thema hatte; Kurse, welche sich mit der mittelost- und osteuropäischen Emigration nach Nord- und Südamerika im 19. und 20. Jahrhundert sowie dem „kulturellen Erbe der industriellen Arbeit“ auseinandersetzten und eine Vorlesung, welche das grosse Thema „Russische Kultur und Geopolitik von Peter dem Grossen bis Wladimir Putin“ behandelte. Hinzu kam der Polnisch-Sprachkurs für Anfänger:innen, welchen ich während des Semesters zweimal pro Woche besuchte. Während sich der Sprachkurs in meinem Fall als hilfreich für den Spracherwerb erwies, waren die Geschichtskurse dagegen teils eine Ergänzung und teils eine blosse „Auffrischung“ dessen, was ich in meinem vorherigen Studium oder gar bereits in der Schule gelernt hatte. Auch war für internationale Studierende das Angebot an englischsprachigen Kursen relativ begrenzt, sodass ich abgesehen von meinen vier Kursen nur noch einen weiteren Kurs hätte belegen können, welcher zudem raum- und epochentechnisch den anderen Kursen recht ähnlich war. Gleichzeitig sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass es eigentlich ein „offenes Geheimnis“ ist, dass jene Kurse für ERASMUS-Studierende im Vergleich zu den regulären Kursen oftmals nicht zu den anspruchsvollsten zählen. Mit mir völlig neuen Inhalten oder bahnbrechenden Erkenntnissen konfrontiert zu werden, war deswegen im Vorfeld weder meine Erwartung noch meine hauptsächliche Motivation für den Auslandsaufenthalt. Vielmehr erhielt ich einen Einblick darin, wie Geschichtswissenschaften bzw. geschichtswissenschaftliche Inhalte an einer polnischen Universität gelehrt werden (können), was jedoch eine nicht minder interessante Erfahrung für mich darstellte.
Am besten hat mir an meinem Auslandssemester in Krakau gefallen, dass ich dadurch die Möglichkeit hatte, für ein paar Monate eigenständig in einem Studentenwohnheim in einer grossen Grossstadt im Ausland zu leben. Neben der über die Landesgrenzen hinaus bekannten und renommierten Universität verfügt Krakau zudem auch über ein vielfältiges und bezahlbares Freizeitangebot für Studierende und junge Menschen im Generellen. Dazu zählen viele Restaurants, welche verschiedene Landesküchen aus nahezu allen Weltgegenden anbieten sowie Bars, Pubs und Nachtclubs, welche in sehr hoher Dichte im Stadtzentrum zu finden sind. Weiterhin empfand ich auch als sehr positiv, dass der (fast ausschliesslich von Frauen geführte!) lokale „Ableger“ des Erasmus Student Network (ESN) an der Jagiellonen-Universität sehr engagiert war und insbesondere in der ersten Woche bzw. der „Einführungswoche“ sowie der ersten Hälfte des Semesters regelmässig gemeinsame Aktivitäten und Ausflüge anbot. Auch wurden mir und anderen Erasmus-Studierenden auf Anfrage hin „Mentor:innen“ zur Seite gestellt, welche allesamt polnische Studierende der Jagiellonen-Universität waren und uns in erster Linie dabei unterstützen sollten, uns schnell im neuen universitären Umfeld sowie im polnischen Alltag zurechtzufinden. All dies bot die Gelegenheit, sowohl mit polnischen wie auch anderen internationalen Studierenden in Kontakt zu kommen und diese näher kennenzulernen. Im Laufe der Zeit lernte ich durch diese Veranstaltungen, meine Kurse an der Universität sowie über Personen, welchen ich in der ersten Woche begegnete, immer mehr Studierende aus allen Teilen der Welt kennen. Während des Semesters bildeten sich so schliesslich mehrere Gruppen an Bekannt- und Freundschaften, mit denen ich mich meistens entweder abends oder am Wochenende in der Stadt traf und Ausflüge in der näheren Umgebung Krakaus unternahm. Mit einigen von jenen, mit denen ich mich gut verstanden und öfters getroffen habe, stehe ich auch bis heute in Kontakt und ich hoffe, dass sich in naher Zukunft Möglichkeiten für das ein oder andere Wiedersehen ergeben.
Es ist meine feste Überzeugung, dass man in einem (oder zwei) Auslandssemester(n) Dinge lernen kann, welche man an der Heimuniversität in keiner Vorlesung, keinem Proseminar oder Seminar und keiner Übung vermittelt bekommen wird. Dies trifft sowohl auf den „akademischen“ wie auch auf den „nicht-akademischen“ Teil einer solchen Erfahrung zu. In akademischer Hinsicht kann ein Auslandssemester entweder die Chance bieten, sich verstärkt mit historischen Sachverhalten oder Epochen auseinanderzusetzen, welchen man zuvor im Studium an der Heimuniversität noch nicht allzu sehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, oder aber bereits bestehende Schwerpunkte zu vertiefen. Letzteres war bei mir der Fall, da ich bereits an der Uni Basel Kurse in ostmitteleuropäischer sowie russischer und sowjetischer Geschichte belegt, Russisch und ein wenig Polnisch gelernt hatte sowie auch bereits einige Male in „Osteuropa“ gewesen war. Manches von dem, was in meinen Kursen behandelt wurde, war deswegen letzten Endes gewissermassen eine „kleine Wiederholung“ für mich. Wichtiger als die eigentlichen Kursinhalte waren für mich jedoch das Nachvollziehen der polnischen Perspektive auf bzw. Interpretation der eigenen Geschichte und, basierend darauf, was Polen für seine Bürger:innen heute ist. Zudem lässt sich daraus auch teilweise herleiten, warum sich viele Pol:innen geographisch als Teil „Mitteleuropas“ und nicht als Teil „Osteuropas“ sehen und auch, warum der Katholizismus in Polen immer noch solch eine starke identitätsstiftende Bedeutung hat. Auch in der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen gehört die Deutung von vergangenen Ereignissen und deren Einbettung in einen grösseren Kontext bekanntlich zu den Hauptaufgaben. Deren Ergebnis kann jedoch auch je nach kulturellem Kontext unterschiedlich ausfallen, weswegen ich es für sinnvoll halte, ein bis zwei Semester des Studiums im Ausland zu verbringen, um andere Sichtweisen auf europäische und Globalgeschichte inner-wie auch ausserhalb der akademischen Sphäre nachvollziehen zu können. Nicht zuletzt kann ein solcher Auslandsaufenthalt auch dazu beitragen, eigene liebgewonnene Ansichten kritisch zu hinterfragen und sogar zu revidieren.
Man sollte sich sowohl vor der Wahl des „Gastlandes“ wie auch vor Antritt des Auslandsaufenthaltes über die Besonderheiten des jeweiligen Landes sowie allfällige besondere Bestimmungen der Partneruniversität informieren. Je nachdem, ob man sich für ein oder zwei Auslandssemester inner- oder ausserhalb Europas bzw. der Europäischen Union entscheidet, ist entweder etwas weniger oder etwas mehr administrativer Aufwand erforderlich. Für eine reibungslose Vorbereitung sollte man in jedem Fall stets die dazu relevanten E-Mails lesen und sich ebenfalls regelmässig mit den Mobilitätskoordinator:innen des Faches Geschichte an der Universität Basel sowie mit jenen des entsprechenden Fachbereiches an der Partneruniversität austauschen. Zudem sollte man am besten schon vorab, wenn man sie denn nicht ohnehin bereits beherrscht, zumindest ein wenig die Landessprache lernen, da dies einem später enorm helfen kann, sich schneller im neuen Land einzugewöhnen. Wenn man schliesslich vor Ort angekommen ist, sollte man einfach aufgeschlossen gegenüber dem neuen Umfeld sein und bereit sein, sich auch wirklich darauf einzulassen. Die Menschen in Polen generell mögen kulturell bedingt gegenüber Fremden zunächst etwas reserviert erscheinen, sind aber dafür meist umso „wärmer“, sobald eine Beziehung aufgebaut ist. Auch, wenn man nur wenig oder gar überhaupt kein Polnisch kann, wird man es als ausländische Studierende Person in den urbanen Zentren des Landes relativ leicht haben, junge Pol:innen kennenzulernen, da diese in vielen Fällen europa- oder gar weltweit mobil sind und u.a. deswegen auch über gute Englischkenntnisse verfügen oder gar noch weitere Fremdsprachen wie Deutsch beherrschen. Wenn man also bereit dazu ist, das gewohnte Umfeld in der Schweiz für eine Weile hinter sich zu lassen, sich in einem anderen Land mit einer evtl. anderen Sprache als Deutsch zurechtzufinden und man die „neue Umgebung auf Zeit“ so akzeptieren kann, wie sie ist, kann ein universitärer Auslandsaufenthalt in der Tat eine bereichernde Erfahrung sein, an die man sich gerne zurückerinnern wird.