Studienexkursion Tscheljabinsk – Yekaterinburg 2016
Vom 4. bis zum 13. Juni 2016 führte der Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Basel eine Studienreise unter dem Titel "Vom Reich der Kälte zum Raum der Zukunft" nach Tscheljabinsk und Jekaterinburg durch. Im Rahmen einer Übung im Frühjahrssemester 2016 hatten sich Prof. Dr. Schenk und die Studierenden intensiv mit der Erschliessung und Kolonisierung Sibiriens beschäftigt, wobei auch regelmässig die Geschichte der Ural-Region behandelt wurde. Teilnahmebedingung für die Reise war das Bestehen der Übung sowie die Bereitschaft, sich mit einem Input-Referat in das Exkursionsprogramm einzubringen.
Wir besammelten uns gegen Mittag in Zürich, um die gemeinsame Reise anzutreten. Nach dem dreistündigen Flug und dem Transfer ins Hostel reichte die Zeit nur noch für ein gemeinsames Abendessen aus. Am nächsten Tag konnten wir in voller Frische die russische Hauptstadt entdecken. Den Morgen nutzten wir für einen ausgedehnten Spaziergang, der am Kiewer Bahnhof begann und auf dem Roten Platz endete. Dabei bekamen wir einige der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Moskaus, darunter das Weisse Haus, das International Business Center, mehrere der Sieben Schwestern und natürlich den Kreml, zu sehen. Gezielte Inputs von Rhea halfen uns dabei, die historische Bedeutung der Gebäude und Plätze zu erfassen. Im GUM, dem berühmten Warenhaus am Kreml, trennten sich unsere Wege. Der Nachmittag stand uns zur freien Verfügung und die meisten nutzten die Zeit, um mehr von der Hauptstadt zu sehen. Zum Glück geriet dabei nicht in Vergessenheit, dass man sich für 36 Stunden Zugfahrt mit genügend Proviant einzudecken hatte. Abends gingen wir gemeinsam zum "Komsomolskaja ploschtschad", dem Platz der drei Bahnhöfe, wo unsere Zugreise beginnen sollte. Nina erzählte uns in ihrem Vortrag die Geschichte der drei Bahnhöfe: Der Kasaner, der Jaroslawer und der Leningrader Bahnhof wurden nach der Endstation der von ihnen ausgehenden Zuglinien benannt und ihr jeweiliger Architekturstil lehnt sich an denjenigen der Destination an. So erinnert der Turm auf dem Kasaner Bahnhofs an die Bastion des Kasaner Kremls. In jenem Bahnhof startete auch unsere Bahnreise.
Spätabends bezogen wir unsere Betten im "Platskar", einem Waggon der preiswerten Klasse, in welchem die Schlafkajüten nicht durch Abteile voneinander getrennt sind. Während das europäische Russland an uns vorbeizog, verbrachten wir die Zeit in der Transsibirischen Eisenbahn mit Kartenspielen, Kaffeetrinken, Lesen und Essen. In Samara, der Stadt mit dem höchsten Bahnhof Russlands, stellte uns Oliver einen historischen Reisebericht über die Fahrt in der Transsib vor. Wir erfuhren dabei allerlei Wissenswertes und Kurioses.
Nach zwei geruhsamen Nächten in der Eisenbahn kamen wir am Dienstag in der Frühe in Tscheljabinsk an. Dort erwartete uns bereits ein Bus, um uns ins Studentenheim zu fahren, wo wir unsere Zimmer beziehen konnten. Nach dem Mittagessen bekamen wir in einer Führung von Professor Igor Narskij erste Eindrücke von der Stadt. Er zeigte uns die ortsansässige Universität, das Denkmal für den "faulen Studenten" und mehrere Monumente, darunter das Lenin-Denkmal. In der Fussgängerzone von Tscheljabinsk empfing uns Dr. Nikolaj Antipin, der zwar erst 29 Jahre alt ist, aber bereits mehrere Bücher publiziert hat und stellvertretender Direktor des Museums für Heimatkunde ist. Er führte uns durch die Innenstadt Tscheljabinsks zum Museum für Heimatkunde, wo sie bereits auf uns gewartet hatten. Anne Hasselmanns Vortrag, in welchem sie ihr Dissertationsprojekt über die Musealisierung des Grossen Vaterländischen Kriegs in Moskau, Minsk und Tscheljabinsk vorstellte, fand in einem eigens dafür hergerichteten Konferenzsaal statt und wurde sogar vom Filmteam der Staatlichen Südural-Universität aufgezeichnet, welches uns für den Rest des Tages auf Schritt und Tritt begleitete. Nach einer Museumsführung versammelten wir uns für das feierliche Begrüssungsessen in einem georgischen Restaurant. Es wurden Laudationes gehalten, Geschenke ausgetauscht und ausgezeichnet gegessen.
Der fünfte Tag unserer Exkursion dürfte vielen als der anstrengendste in Erinnerung bleiben, da wir ein äusserst straff organisiertes Programm zu bewältigen hatten. Da Tscheljabinsk ein berühmtes Eisenbahn-Zentrum ist, begann unser Tag im städtischen Eisenbahnmuseum. Die Führung dort war äusserst informativ und sehr interaktiv gestaltet: So bekam beispielsweise Herr Schenk die Mütze des Zugchefs aufgesetzt und durfte gemeinsam mit Philipp, der ihm mit einem Werkzeugköfferchen zur Seite stand, demonstrieren, wie die zuginterne Kommunikation in früheren Zeiten funktionierte. Nebst der Eisenbahn und dem Komet ist Tscheljabinsk in der Geschichtsschreibung auch in seiner Funktion als Sammelstelle für die Immigranten der späten Zarenzeit bekannt. Der berühmte Migrationspunkt wurde leider grösstenteils abgerissen, aber in Begleitung einer Mitarbeiterin der Universität gingen wir auf eine Spurensuche, die uns mitunter auf das Territorium eines Kindergartens führte. Danach konnten wir uns die Grösse und Beschaffenheit des damaligen Auffanglagers gut vorstellen. Ohne Unterbruch ging es weiter zum Bahnhof von Tscheljabinsk, in dessen Nachbarschaft wir uns historische Waggons ansehen wollten. Der Chef des Bahnhofs war jedoch hocherfreut über unseren Besuch und liess es sich nicht nehmen, uns eine exklusive Führung zu geben. Die Höhepunkte waren das Indoor-Biotop, die Fotoausstellung über den örtlichen Eishockeyclub "Traktor Tscheljabinsk" und ein mit LED-Lichtspielen gesäumter Brunnen, auf dessen Sockel eine Amazonen-Statue thronte, die eine Allegorie für Russland darstellt. Die Zeit war bereits weit fortgeschritten, als wir uns die historischen Eisenbahnen ansehen konnten. Darunter befanden sich Züge aus der Sowjet-Zeit sowie ein eleganter begehbarer Wohn-Zug aus der Zarenzeit. Danach waren wir alle sehr erschöpft und nahmen um 16:00 unser spätes Mittagessen ein.
Am folgenden Tag besuchten wir die Stadt Troizk, eine ehemalige Marktstadt, deren Pracht heute verblasst ist. Umso aufregender ist jedoch die Geschichte des 78'000-Seelen-Ortes. Am Ortseingang erwartete uns Rauf Gizatullin, der uns den ganzen Tag begleitete und uns seine Heimatstadt näherbrachte. Da die Referate, die wir für den Tag eingeplant hatten, eines Sitzungszimmer bedurften, gerieten wir unverhofft in ein Anatomiemuseum, wo uns der Leiter die sehenswertesten Exponate der Ausstellung, etwa das Skelett einer Kuh, die über 80 Liter Milch pro Tag produzierte, näherbrachte. Das Sitzungszimmer stellte sich als äusserst prachtvoll heraus. Beobachtet von einem Bildnis des russischen Präsidenten hielten Nicola und Benjamin ihre Referate über die Bedeutung der Jahrmärkte sowie Jule Vernes Sibirien-Bild. Nach einer Stadtrundfahrt besuchten wir eine Moschee. Dort zeigte uns der Imam Geld aus der vorrevolutionären Zeit, welches ein Troizker Kaufmann auf der Flucht vor den Bolschewiki im Gotteshaus versteckt hatte. Nach dem Besuch der Moschee durften wir vom Minarett aus die tolle Aussicht über ganz Troizk und die Umgebung geniessen.
Nachdem wir am folgenden Tag bis 10 Uhr ausschlafen durften, bestiegen wir wieder einen Bus, um mit einigen gewollten Umwegen – Nikolaj wollte uns noch einige Orte in Tscheljabinsk zeigen – das Dorf Miasskoje, eine ehemalige Kosakensiedlung, zu besuchen. Nachdem wir die Traktorfabrik und einen besonders schönen Kulturpalast angeschaut hatten, erreichten wir unsere Destination. In Miasskoje besuchten wir das Ortsmuseum, welches neben Relikten der Ortsgeschichte ein Kuriosum, nämlich eine Ausstellung über die Geschichte des Bügeleisens, austellte. Die Zielgruppe der Bügeleisen-Sonderausstellung sind Schüler, welche über die Ferien in Miasskoje zu Besuch sind. Nahe des Ortsmuseums schauten wir uns ein Monument für den russisch-japanischen Krieg an. Nikolaj Antipin konnte uns viel darüber erzählen, da er sich im Zuge seiner Dissertation mit dem Thema beschäftigt hatte. Zurück in Tscheljabinsk setzten wir uns in einen Park, wo Maurice, Luca und Bastian ihre Referate hielten. Die Themen waren die Geschichte der Kosaken, die strategisch wichtige Rolle Tscheljabinsks im Zweiten Weltkrieg sowie der Reaktorunfall im Atomrüstungskombinat Majak im Jahre 1957.
Von Ausschlafen konnte am achten Reisetag keine Rede sein, da uns in aller Frühe ein Bus abholte, um die Gruppe nach Yekaterinburg zu fahren. Dort bezogen wir unser Hotel, assen zu Mittag und trafen uns danach in einem schönen Park, um uns dort die Referate von Mira und Svenja anzuhören. Unter erschwerten Bedingungen – im Park wimmelte es von lustwandelnden Hochzeitsgesellschaften – erzählten uns die Referentinnen von einem historischen Russland-Reiseführer und der Ermordung der Zarenfamilie. Vor dem Hotel empfing uns ein Bus für eine ausgedehnte Stadtrundfahrt. Unser Führer war ein ortsansässiger Politologie-Student, der uns die prächtigen Kirchen und die eindrückliche Skyline der Stadt zeigte. Nach dem Besuch eines Museums für Militärfahrzeuge erkundeten wir den Stadtteil Uralmasch, eine sowjetische Planstadt, in der architektonische und soziale Utopien verwirklicht werden sollten. In der jüngeren Vergangenheit wurden viele der konstruktivistischen Gebäude umfunktioniert.
Der offizielle Teil des neunten Exkursionstages bestand aus einem Vortrags-Marathon: Natalia brachte uns die russischen Sherlock-Holmes-Pastiches näher und mit Katharina verfolgten wir die Sibirien-Expeditionen von Fridtjof Nansen. Philipp referierte über den russischen Bürgerkrieg im Ural, Meret über den Bürgerkrieg in Pasternaks "Doktor Schiwago". Nach einer kurzen Pause stellte uns Julia die Struktur und Geschichte des GULags vor und Sara führte uns in die Welt von Warlam Schalamow und den anderen Autoren der Verbannungsliteratur ein. Viele Fragen und angeregte Diskussionen führten dazu, dass wir das angestrebte Zeitlimit weit überschritten. Danach stand uns der Nachmittag zur freien Verfügung. Das schlechte Wetter trieb viele ins Jelzin-Center, wo eine Ausstellung über das Leben des ehemaligen Präsidenten zu sehen war, die anschliessend viel Gesprächsstoff bot. Gemeinsam beendeten wir den letzten offiziellen Tag der Exkursion bei einem Abschiedsessen in einem usbekischen Restaurant. Am nächsten Tag trennten sich unsere Wege. Die Exkursion ist bei uns allen durchwegs positiv angekommen. Wir hatten eine interessante und schöne Zeit. Die Organisation war tadellos und das Programm sehr ansprechend und anregend.
Bericht von Luca Thoma