Im Rahmen der Exkursion «Jüdische Geschichte zwischen Deutschland und Polen. Eine Spurensuche» begab sich eine Gruppe Studierender mit Prof. Dr. F. Benjamin Schenk, Prof. Dr. Erik Petry, Dr. des. Kai Willms und Laura Alt, MA im Juni 2025 nach Polen. Im Fokus stand die jüdische Geschichte der Städte Poznań und Wrocław seit dem 19. Jahrhundert. Während Poznań nach dem Ersten Weltkrieg der Zweiten Polnischen Republik zugeschlagen wurde, ist Wrocław erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine polnische Stadt. Zur Vorbereitung verfassten die Studierenden Arbeitspapiere zu verschiedenen Themen der jüdischen Geschichte der Städte Poznań und Wrocław welche an zwei Blocktagen präsentiert und diskutiert wurden. Dazu kamen Vorträge von Prof. Dr. Beata Halicka, Prof. Dr. Gregorz Skrukwa und Klaudia Kimel, MA von der Universität Poznań, sowie Prof. Dr. Heinrich Schwendemann von der Universität Freiburg. Die Exkursion fand in Zusammenarbeit mit der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań statt und wurde finanziell von der europäischen Hochschulallianz EPICUR (European Partnership for an Innovative Campus Unifying Regions) unterstützt.
Wie gestaltete und veränderte sich das Zusammenleben von Jüdinnen und Juden sowie Deutschen und Polen in Poznań/Posen und Wrocław/Breslau im 19. und 20. Jahrhundert? Welche Rolle spielten Jüdinnen und Juden im politischen, ökonomischen, kulturellen und gesellschaftlichen Gefüge der beiden Metropolen? Welches Schicksal widerfuhr den jüdischen Gemeinschaften in Poznań/Posen und Wrocław/Breslau im Zweiten Weltkrieg und wie wird heute in beiden Städten an jüdisches Leben und die Shoa erinnert? Diese und weitere Fragen haben wir versucht im Rahmen der Blocktage und im Laufe der Exkursion zu beantworten.
Am 1. Juni trafen wir uns morgens am Badischen Bahnhof und traten gemeinsam unsere Reise nach Poznań an. Nach einer späten Ankunft am Sonntagabend machten wir uns am Montag mit dem Zug auf den Weg nach Zbąszyń. Die Stadt liegt ca. 75km westlich von Poznań, hier verlief in der Zwischenkriegszeit die Grenze zwischen Polen und Deutschland (Deutsches Reich). Am Bahnhof wurden wir von Ewa Splawska und Wojciech Olejniczak (Direktor des örtlichen Museums und Präsident der «Tres Foundation») in Empfang genommen und wir fuhren gemeinsam zum ehemaligen Grenzwald. Dort bekamen wir eine erste Einführung in die Geschichte Zbąszyńs und die Hintergründe der Grenzziehungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Anschliessend wurden wir durch Zbąszyń geführt und über die jüdische Geschichte der Stadt informiert. Unter anderem sahen wir die ersten Stolpersteine in Zbąszyń, welche 2020 platziert wurden. Sowohl während der Führung als auch im anschliessenden Besuch im Stadtmuseum stand die «Polenaktion» von 1938 im Fokus. Dies bezeichnet die Vertreibung der aus Polen stammenden jüdischen Bevölkerung und ihrer Familien aus dem Deutschen Reich und ihre Überführung ins polnische Staatsgebiet. In diesem Zuge kamen Ende Oktober 1938 circa. 9000 vertriebene Juden nach Zbąszyń. Ohne Unterstützung der polnischen Regierung und mit einem Verbot, die Stadt zu verlassen, befand sich die kleine Stadt über Monate in einem Ausnahmezustand, und viele der vertriebenen Juden lebten in schrecklichen Verhältnissen. Die «Tres Foundation», das Stadtmuseum und dessen Leiter Wojciech Olejniczak setzen sich mit grossem Engagement für die Erinnerung an die jüdische Geschichte ein und leisten wertvolle Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung. Nach einem gemeinsamen Mittagessen kehrten wir an den historischen Bahnhof in Zbąszyń zurück und fuhren zurück nach Poznań.
Am Nachmittag trafen wir Prof. Dr. Beata Halicka und Klaudia Kimel, MA vor einem zunächst unscheinbar wirkenden Gebäude nicht weit von der Universität entfernt. Im Innenhof erwartete uns Maciej Krajewski vom Verein «Lazęga Poznańska» und Oliwia Gromadzka welche für uns übersetzte. Wir bekamen einen Vortrag über die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Poznań und die verehrenden Auswirkungen der Shoah. Viele Orte ehemaligen jüdischen Lebens sind heute in Vergessenheit geraten und sind vom Zerfall bedroht. Ein Beispiel ist die Neue Synagoge Poznańs welche seit der NS-Besatzung der Stadt als Schwimmbad genutzt wurde und nun zerfällt. Maciej Krajewski erzählte uns von dem Ziel der Assoziation, die Erinnerung an Poznań als einstiges Zentrum jüdischen Lebens und die tragischen Konsequenzen der Shoah aufrechtzuerhalten. Der Verein setzt sich für die Erhaltung und Einrichtung jüdischer Gedenkstädten ein, sowie für die Aufklärung der Bevölkerung über die jüdische Vergangenheit. Wie die Erinnerungsarbeit Wojciech Olejniczaks in Zbąszyń ist auch diese Initiative ein Beispiel für das Engagement der polnischen Zivilgesellschaft. Im Anschluss führte uns Maciej Krajewski noch durch Poznań und zeigte uns unter anderem eine Gedenkstädte auf dem Gebiet des früheren jüdischen Friedhofs.
Den Dienstag verbrachten wir in Poznań. Wir freuten uns darauf, die drei Kolleg:innen von der Adam-Mickiewicz-Universität wieder zu sehen, die uns für die zwei Blocktage im Mai in Basel besucht hatten. Wir wurden von der Doktorandin Klaudia Kimel in der Hotellobby abgeholt und bekamen von ihr auf dem Weg zur Universität spannende Hinweise zu wichtigen Orten für die jüdische Geschichte in der Stadt. Unter anderem zeigte sie uns das ehemalige Hotel Bazar, aus dessen Fenster Igancy Jan Paderewski 1918 eine Rede hielt, die zum Beginn des Posener Aufstands führte, bevor das Gebäude 1945 zerstört und dann wieder aufgebaut wurde. Bei der Universität angekommen, wurden wir sehr freundlich empfangen und ins Büro der Rektorin geführt, die leider abwesend war. Stattdessen bekamen wir ihre vielen Vorgänger in Form grosser Gemälde zu Gesicht, die alle vier Wände des repräsentativ gestalteten Raumes füllten. Wir durften dann den Vormittag im Sitzungszimmer des universitären Senats damit verbringen, interessante Vorträge über aktuelle Forschungsprojekte an der Universität zur jüdischen Geschichte zu hören und mit den Referentinnen zu diskutieren. Zuerst ging es um Antisemitismus an der Universität Poznań zwischen 1919 und 1939. Der zweite Vortrag befasste sich mit der Haltung der Presse in Poznań gegenüber jüdischen Menschen in den Jahren 1914 – 1922. Zum Schluss erfuhren wir noch etwas über notarielle Urkunden als Quellen für die Forschung zur «Polenaktion» 1938, mit der wir uns bereits in Zbąszyń befasst hatten. Danach wurden wir zu einem leckeren Mittagessen in der Universität eingeladen.
Am Nachmittag bekamen wir eine Stadtführung von Dr. Maksym Kempiński. Besonders gespannt waren wir auf das Schloss direkt neben der Universität, über dessen Geschichte wir dank eines Vortrags von Prof. Heinrich Schwendemann in Basel bereits informiert waren. Das ursprünglich für Kaiser Wilhelm II. erbaute Gebäude, das später im Auftrag von Hitler umgebaut wurde, wird heute als Kulturzentrum genutzt. Über die Nutzung von Orten mit einer schwierigen Vergangenheit diskutierten wir während der Besichtigung im Schloss. Bei der anschliessenden Stadtführung besichtigten wir unter anderem das ehemalige jüdische Viertel und die Synagoge, die während des Zweiten Weltkriegs von der deutschen Besatzung zu einem Schwimmbad umgebaut wurde und heute dem Verfall überlassen wird. Dies sorgte ebenfalls für Diskussionen in der Gruppe. Zum Abschluss der Führung und des Tagesprogramms zeigte uns unser Guide die Fabrik der ehemaligen jüdischen Firma Hartwig Kantorowicz.
Nach einer eineinhalbstündigen Zugfahrt von Poznań erreichte unsere Gruppe am Mittwoch Mittag den Hauptbahnhof Wrocław. Nachdem wir im Hotel eingecheckt hatten, blieb Zeit für eine individuelle Mittagspause und eine anschliessende Reflexion in der Gruppe über die Eindrücke während des ersten Teils der Exkursion.
Der folgende Tag begann mit einer Führung über den alten Jüdischen Friedhof. Unsere Stadtführerin, Renata Bardzik-Miłosz, vermittelte mit beeindruckender Sachkenntnis die komplexe Geschichte Wrocławs – insbesondere in Bezug auf die jüdische Bevölkerung und die Zeit des Nationalsozialismus. Bereits die Anfahrt mit der Strassenbahn eröffnete uns einen Blick in die Vergangenheit: Zahlreiche Gebäude weisen noch heute Spuren des Zweiten Weltkriegs auf. Renata Bardzik-Miłosz berichtete über die 80-tägige Belagerung der „Festung Breslau“ durch die Rote Armee im Frühjahr 1945, bei der grosse Teile der Stadt zerstört wurden. Auf dem Friedhof selbst beeindruckte die Vielfalt der Grabmäler. Breslau/Wrocław war einst ein bedeutendes Zentrum der jüdischen Aufklärung (Haskala), was sich in der Bandbreite an Symbolik, Sprachwahl und architektonischen Stilen der Grabsteine widerspiegelt.
Nach einer Mittagspause folgten ein Vortrag im Hotel und eine anschliessende Stadtführung mit Wojtek Chrzanowski, Mitbegründer der „Urban Memory Foundation“. Diese NGO hat es sich zur Aufgabe gemacht, die jüdische Vergangenheit in Wrocław sichtbar zu machen. Der Architekt Chrzanowski schilderte in diesem Zusammenhang auch die administrativen und politischen Hürden bei der Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung. Ein Teil der Gruppe besichtigte im Anschluss noch die Jahrhunderthalle und die Werbundsiedlung.
Am nächsten Morgen besuchten wir das Institut für Judaistik an der Universität Wrocław. Dort referierte der Historiker Dr. Tim Buchen über sein aktuelles Forschungsprojekt: „Strategien des sozialen Aufstiegs und des Obenbleibens: Die jüdischen Eliten von Breslau, 1848–1933“. Im Zentrum stehen Bildungsentscheidungen, Karrierenetzwerke und die soziale Mobilität jüdischer Akademiker in Wrocław vom Ende des Emanzipationsprozesses bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten. Buchens Ansatz verbindet Sozialgeschichte mit kulturgeschichtlichen Einzelfallstudien über mehrere Generationen hinweg. Im Anschluss besichtigten wir gemeinsam mit Tim Buchen die Synagoge „Zum weissen Storch“.
Nach einer kurzen Mittagspause folgte ein Rundgang durch das „Viertel der Vier Konfessionen“, geführt von Anna Berezowska, Doktorandin der Judaistik. In diesem Rahmen besuchten wir eine katholische, eine orthodoxe und eine protestantische Kirche und tauchten in das Leben des multikonfessionellen Breslaus/Wrocławs ein. Zum Abschluss des Tages traf sich die Gruppe zu einem gemeinsamen Abendessen in einem jüdischen Restaurant. Danach kamen wir zu einer abschliessenden Reflexionsrunde zusammen und tauschten uns über unsere intensiven Eindrücke während der Reise aus.
Bericht von Solveig Suter, Nina Haronska und Chanda Nadeem, Fotografien von F. Benjamin Schenk, Solveig Suter und Chanda Nadeem