[Es] ist sicher, daß zwischen Liebe und Freundschaft, von denen jede für sich so viele feine Nüancen und Schattierungen aufweist, die Grenze oft schwer gezogen werden kann.
Magnus Hirschfeld (1868-1935), Berliner Sexualwissenschaftler
In meinem Dissertationsprojekt erforsche ich die Verbindung zwischen Freundschaft und homosexuellem Begehren in der Zeit von 1870 bis 1970. Freundschaft war schon seit der Antike auf vielfältige Weise ein Möglichkeitsraum für gleichgeschlechtliche Liebe und homosexuelles Begehren: Die Grenze zwischen der Homosozialität der Freundschaft und der Homosexualität inder Freundschaft erwies sich über die Jahrhunderte hinweg als durchlässig. Die ‹Erfindung› und Pathologisierung des modernen homosexuellen Subjekts um 1870 hingegen machte gerade dieses Kontinuum verfänglich; Individuen sahen sich infolgedessen gezwungen, sich in (sexualpathologisch) Liebende und (unverdächtige) Freund*innen zu scheiden. Allerdings suggerieren zahlreiche Quellen, dass die Freundschaft im Kontext gleichgeschlechtlichen Begehrens auch nach 1870 omnipräsent blieb; sie bestand parallel und in Abgrenzung zu homosexuellen Subkulturen oder wurde von selbsterklärten Homosexuellen affirmativ angeeignet. Allerdings fehlt zurzeit eine Studie zu Freundschaft in Hinblick auf gleichgeschlechtliches Begehren im 20. Jh., die jene Akteur*innen, die sich selbst nicht als homosexuell bezeichneten, und selbsterklärte Homosexuelle jeweils beiden Geschlechts in einen analytischen Zusammenhang bringt.
Hier setzt das Promotionsvorhaben an und untersucht die Freundschaft als Möglichkeitsraum homosexuellen Begehrens ca. zwischen 1870 und 1970. Ziel ist es, die Geschichte gleichgeschlechtlicher Liebe in diesem Zeitraum nicht als Geschichte einer sexuellen Minderheit oder Identität zu erzählen, sondern aus der Perspektive einer Geschichte der Freundschaft als subjektivitätsstiftende Lebensform. Die Dissertation gliedert sich in Fallstudien über sechs verschiedene Freund*innenpaare – drei Frauen- und drei Männerpaare – mit Fokus auf die Schweiz. Der Quellenkorpus speist sich aus persönlichen Nachlässen, Briefen, Tagebüchern, Autobiografien und weiteren Ego-Dokumenten. Das Projekt verfolgt einen historisch-anthropologischen Ansatz und greift zur Analyse von Beziehung, Sexualität, Geschlecht, Individualität und Subjektivität auf geschlechter- und queertheoretische Grundlagen zurück.
Bildnachweis: v.l.n.r. Eugen Laubacher und Gabriele Gerosa (Schwulenarchiv, SozArch Ar 36.38.21) | Cécile Lauber und Agnes Debrit-Vogel (Gosteli-Archiv, AGoF 530:27)
Zitatnachweis: Hirschfeld, Magnus: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, Berlin 1914, S. 184.