In meiner Dissertation beleuchte ich Adoptionen im Spannungsfeld von Normen und Praxis im Kanton Zürich im 20. Jahrhundert. Im Zentrum der Betrachtung steht die Implementierung der Adoptionsgesetzgebung in die Praxis beziehungsweise die Frage, in welchem Verhältnis die Ziele staatlichen Handelns – die von Gesetzes wegen dem Kindeswohl verpflichtet waren – zur Praxis standen und welchen Kontinuitäten und Veränderungen die Adoptionspraktiken unterworfen waren. Zudem gehe ich der Frage nach, welche Familien- und Kindheitsvorstellungen in der Schweiz während des Untersuchungszeitraums vorherrschten und wie die Adoption als konstruiertes Familienmodell in diese Vorstellungen einzuordnen und zu beurteilen ist. Ich untersuche die Aushandlungsprozesse der Zürcher Adoptionsgesetzgebung im Kontext der legislativen Regulierung der Adoption auf eidgenössischer Ebene im 20. Jahrhundert sowie im Kontext der Etablierung und Professionalisierung der Kinder- und Jugendfürsorge und der Sozialen Arbeit. Überdies beleuchte ich die Aufgaben- und Kompetenzverteilung der an den Adoptionsprozessen beteiligten kantonalen und kommunalen Behörden und privaten Akteure, die Handlungsspielräume der behördlichen und privaten Verantwortungsträger sowie die Grenzen der behördlichen Praxis im Detail. Dabei gehe ich insbesondere der Frage nach, ob und inwiefern das Zürcher Adoptionswesen durch strukturelle Probleme – etwa fragmentierte Zuständigkeiten, personelle Verflechtungen und mangelhaft ausgebildete Aufsichts- und Kontrollmechanismen – gekennzeichnet war, die sich beispielsweise in den grossen Handlungsspielräumen der Vormundschaftsbehörden und der Amtsvormünder niederschlugen. Ich werde ermitteln, wo solche strukturellen Probleme auftraten, wie sie zustande kamen und inwiefern sich diese Probleme auch als strukturelle Schwächen entpuppten. In meiner Dissertation versuche ich der Multikausalität dieser Störfaktoren gerecht zu werden, indem ich untersuche ob und inwiefern beispielsweise das Milizsystem, der Föderalismus, die Armenfürsorge oder die Organisation des Vormundschaftswesens auf das Zürcher Adoptionswesen einwirkten. Ausführlich diskutiert wird schliesslich, ob sich meine Vermutung – nämlich, dass zwischen den strukturellen Problemen im Zürcher Adoptionswesen und der Tatsache, dass das Wohl der Kinder nicht immer oberste Priorität besass, tatsächlich ein Zusammenhang besteht – verifizieren lässt und inwiefern das Zürcher Adoptionswesen Fälle von Willkür ermöglichte. Der Fokus liegt auf Adoptionen von in der Schweiz geborenen Kindern durch Schweizer Adoptiveltern.
In der Geschichtswissenschaft wurde dem schweizerischen Adoptionswesen bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Gemäss Martin Lengwiler bildet die Adoptionsproblematik bisher sogar eine historiografische «terra incognita». Dies ist erstaunlich, da die historische Aufarbeitung des schweizerischen Kinder- und Jugendschutzes seit einigen Jahren intensiv beforscht wird. Obwohl die Adoption als besonders scharfe und endgültige Form der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in diese Thematik gehört, spielte sie in bisherigen Untersuchungen nur eine marginale Rolle. Meine Dissertation leistet einen wesentlichen Beitrag zur Schliessung dieser Forschungslücke.
Mein Promotionsvorhaben ist Teil des SNF-Projekts «Domestic Adoption in Switzerland». In diesem interdisziplinären Forschungsprojekt untersuchen wir Kontinuitäten, Wandel und Wirkung von unumkehrbaren Familienplatzierungen in der Schweiz im 20. und 21. Jahrhundert aus historischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Die Projektleitung liegt bei Prof. Dr. Thomas Gabriel (Leiter Institut für Kindheit, Jugend und Familie) von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Erstbetreuer: Prof. Dr. Martin Lengwiler (Departement Geschichte, Universität Basel)
Zweitbetreuer: Prof. Dr. Thomas Gabriel (Departement Soziale Arbeit, ZHAW)
Drittbetreuer: Prof. Dr. Christian Koller (Historisches Seminar, Universität Zürich)