Das Vorhaben untersucht den Zusammenhang zwischen sozialer und politischer Identitätsbildung im spätmittelalterlichen London vor dem Hintergrund einer Neujustierung der curiositas als breites, ökonomisch relevantes (und positiv konnotiertes) Alltagsphänomen. Mit dem ausgehenden Hundertjährigen Krieg, der die Besitztümer der englischen Krone auf dem Kontinent drastisch reduzierte und somit dessen Abhängigkeit von ausländischen Kaufleuten mehrte, wuchs London über den genannten Zeitraum zu einem der wichtigsten europäischen Handelszentren. Die Niederlassung zahlreicher kontinentaleuropäischer, besonders auch italienischer Kaufleute ermöglichte das Entstehen einer multipolaren und multiethnischen Gesellschaft, die verschiedene sprachliche, (proto-)nationale und schließlich auch konfessionelle Identitäten innerhalb und außerhalb des kaufmännischen Milieus verflocht. Das kaufmännische Milieu, gleichzeitig zentraler Verbindungspunkt des internationalen Nachrichtenhandels, ist somit auch Impulsgeber für soziale Veränderungsprozesse und langfristige Mentalitätswandel.

Die Auswirkung eines zunehmend international vernetzten (und über weite Entfernungen hinweg kommunizierenden) kaufmännischen Milieus auf die Alltagspraxis spätmittelalterlicher urbaner Gesellschaften soll am Beispiel der italienischen Handelsgemeinschaft in London nachvollzogen werden. Dabei sind die Verflechtungen italienischer Händler untereinander sowie mit anderen Händlernationen und der Gastgesellschaft von Interesse. Ziel des Vorhabens ist, die durch die Regelmäßigkeit des Nachrichtenhandels entstehende antizipatorische Dynamik als Beitrag zu einer gesellschaftlichen Reevaluierung der Informationsgewinnung, letztlich des Neuen zu begreifen. Der Ansatz postuliert somit die Entstehung einer neuartigen, alltäglichen Form der curiositas, die sich von der vom (primär negativ konnotierten) Begriff des augustinischen Denkens und der scholastischen Philosophie abgrenzt. Anfänglich ein milieuspezifisches Phänomen, kann die merkantile Geisteshaltung vor allem auch durch die internationale Vernetzung der kaufmännischen Sphäre immer weitere Gesellschaftsteile durchdringen. Dies hat nicht zuletzt (wenngleich ambivalente) identitätspolitische Konsequenzen: fördert die merkantile curiositas einerseits den transnationalen Austausch, verstärkt sie andererseits – vor allem im urbanen Kontext – ein Bewusstsein gruppenspezifischer sozialer und kultureller Differenzen.

Somit stützt sich die Untersuchung auf zwei unterschiedliche Hauptquellentypen. Für die Verflechtungen, merkantilen Praktiken und soziokulturellen Eigenschaften des (italienischen) kaufmännischen Milieus in London sind vorrangig kaufmännische Quellen bedeutsam – vorrangig Briefe, aber auch Kontobücher, Rechtsdokumente und Selbstzeugnisse. Zweitens sind englischsprachige Quellen von Interesse, die Einblicke in soziale Mentalitäten und Praktiken in London und England versprechen. Dazu gehören in erster Linie Erbauungsliteratur und Korrespondenzen, aber auch literarische Quellen (z.B. The Cloud of Unknowing, Chaucers Canterbury Tales, The Book of Margery Kempe, Skeltons Bowge of Courte).