Rückblick: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und die Rolle der Geschichtswissenschaft
Auf Einladung der AlumniGeschichte wurde am 16. Mai 2019 über Einsichten aus der Debatte um Heim- und Verdingkinder diskutiert.
Unter dem Titel «Geschichte als Instrument gesellschaftlicher Aufarbeitung? Einsichten aus der Debatte um Heim- und Verdingkinder» fand am 16. Mai 2019 die Jahresveranstaltung der Alumni Geschichte statt.
Die traditionelle Frühjahrsveranstaltung der Alumni Geschichte wurde mit dem Besuch der Ausstellung eröffnet, die zum 350-Jahr-Jubiläum des Bürgerlichen Waisenhauses Basel erarbeitet worden ist. Geführt wurde die Gruppe von der Ausstellungskuratorin Sabine Braunschweig, die als Historikerin und Erwachsenenbildnerin ein eigenes Büro für Sozialgeschichte im Bereich Public History führt. Die Führung bot Gelegenheit, den Gebäulichkeiten und dem Betrieb in ihren historischen Dimensionen zu begegnen und einzelne Kinderschicksale wahrzunehmen. Besondere Aufmerksamkeit erhielt neben der eigentlichen Thematik auch die Frage, wie diese vermittelt werden kann. Eine Tafel war dem ehemaligen Waisenhauskind Hannes Meyer gewidmet, der als Bauhaus-Architekt grössere Bekanntheit erlangte und u.a. 1939 das Kinderheim Mümliswil (SO) erbaute, in dem heute die Guido-Fluri-Stiftung die nationale Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder unterhält.
Im zweiten Teil der Veranstaltung stand die Arbeit der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) im Vordergrund und die Frage nach der Rolle der Geschichtswissenschaft. Martin Lengwiler, Professor für Neuere Allgemeine Geschichte in Basel leitete ins Thema ein.
Am 11. April 2013 entschuldigte sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Namen des Bundesrates bei den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Mit dem Gedenkanlass setzte die eigentliche Aufarbeitung der Geschichte von Heim- und Verdingkindern ein. Im Rahmen einer UEK wurden rund 30 Forscherinnen und Forscher engagiert, die Geschichte bis 1981 zu untersuchen. In vielen Ländern, auch ausserhalb Europas, haben sich vergleichbare Geschichten abgespielt, die fast zeitgleich ebenfalls aufgearbeitet werden: Jedes Land hat seine ganz spezifische Ausformung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, stellte Martin Lengwiler fest.
Auf dem Podium diskutierte Martin Lengwiler unter der Leitung des Moderators Matthias Zehnder mit Loretta Seglias (Historikerin und Forschungsleiterin der UEK), Paul Richener (ehemaliger Verdingbub, Polizist und Gemeindepräsident von Nussbaum) und Esther Baur (Staatsarchivarin Basel-Stadt) vor rund 60 interessierten Alumnae und Alumni der Geschichte über die Arbeit und Funktion der Geschichtswissenschaft, die ganz explizit dazu aufgefordert war, sich kritisch mit diesem Kapitel der Schweizer Geschichte auseinanderzusetzen: grundsätzlich eine gute Situation für Forschende, gab ihnen der vorgegebene Rahmen viel Gestaltungsspielraum und stellte sie auch vor ganz neue Herausforderungen. Zum Beispiel, weil es nicht anging, über oder neben den Opfern fürsorgerischer Massnahmen zu forschen, sondern dies nur mit ihnen gemeinsam geschehen konnte. Sie suchten also nach Wegen partizipativer Forschung und machten die Erfahrung, dass sie in der Konfrontation mit Emotionen kaum ausgebildet waren und sie hier neue Wege eingingen.
Paul Richener war Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen: Er wurde in verschiedenen Pflegefamilien und auch Heimen untergebracht und war der Willkür von Beamten vollkommen ausgeliefert. Die Diskrepanz zwischen seinen Erfahrungen und den viel später eingesehenen Aktennotizen ist enorm: Die Unterlagen erzählen von einer gänzlich anderen Perspektive und durch die Interpretation der Quellen wird klar, dass es hier um eine Geschichte von struktureller Gewalt geht. Entsprechend zentral waren für die UEK Interviews und Gespräche mit den Opfern. Im Staatsarchiv Basel-Stadt gingen insgesamt 392 Gesuche um Akteneinsicht von Betroffenen ein. Ein intensiver Prozess für Archivmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, wie Esther Baur erzählte. Sie macht eine neue Entwicklung aus im Archiv: Über Akten und Dokumente finden heute mehr Auseinandersetzungen mit biografischen Geschichten statt als früher, als der Fokus eher auf genealogischen Fragen lag. Geändert hat sich auch die Rolle des Archivs: Während vor rund dreissig Jahren nur zögerlich Akten zur Einsicht rausgegeben wurden, herrscht heute das Prinzip der Transparenz vor. Das staatliche Handeln wird dokumentiert und darf grundsätzlich eingesehen werden.
Die Feststellung, dass gesellschaftlich etwas vollkommen falsch gelaufen ist und unzählige Kinder, Frauen und Männer Opfer von struktureller Gewalt geworden sind, ist für Paul Richener heute wichtig. Abgeschlossen wird der Prozess der Aufarbeitung mit dem Abschluss der Ergebnisse der UEK allerdings kaum: Für ihn bleiben viele Fragen offen und diejenigen Personen, die über ihn entschieden haben, können sich nicht mehr erklären oder entschuldigen.
Auch für die Forschenden stellen sich viele neue Fragen, so Loretta Seglias. Dazu gehört beispielsweise auch die Frage nach der ökonomischen Dimension des Systems. Was ist denn der Gewinn, den Bauern innerhalb dieses Systems erwirtschafteten? Neue Fragen ergeben sich auch durch die nächste Generation. Und wenngleich die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in dieser Form abgeschafft sind, so kommt es dennoch immer wieder zu Situationen, in welchen Kinder in ihren Familien beispielsweise nicht gut untergebracht sind. Das Spannungsfeld also bleibt weiterhin bestehen. Der Umgang damit allerdings verändert sich.
In der anschliessenden Diskussion wurde eine Parallele gezogen zwischen der Erfahrung der Opfer der fürsorglichen Zwangsmassnahmen und den heutigen Erfahrungen von abgelehnten Asylsuchenden, Erfahrungen von behördlicher Willkür und fehlender Transparenz.
Für die ehemaligen Studentinnen und Studenten der Geschichte in Basel war es ein spannender Einblick in die Werkstatt von Historikerinnen und Historiker heute: Die Gespräche wurden während des anschliessenden Apéros lange weitergeführt.
Bericht: Isabel Koellreuter und Georg Kreis