Der Schweizerische Nationalfonds und die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben das Forschungsprojekt „Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken und historischer Wandel in den Kontinentalreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Mitte 19. – frühes 20. Jahrhundert)“ für die Zeit von März 2013 bis April 2016 gefördert. Im Projekt kooperierten die Universität Basel (Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk, Prof. Dr. Maurus Reinkowski), die LMU München (Dr. Robert Luft, bis Ende 2016: Prof. Dr. Martin Aust) sowie die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (ab 2016: Prof. Dr. Martin Aust).
Das Forschungsvorhaben hatte sich mit dem Wechselverhältnis von autobiographischer Praxis und historischem Wandel im Russischen Reich, in der Habsburgermonarchie sowie im Osmanischen Reich im Zeitalter der anbrechenden Moderne befasst. Dabei wurden neuere Ansätze der Biographie- und Autobiographieforschung für die vergleichende Imperienforschung fruchtbar gemacht und die Vielvölkerreiche des östlichen Europa als Kommunikationsräume imperialer Reflexivität in den Blick genommen.
In allen drei Imperien kam es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Zunahme autobiographischen Schreibens und Publizierens. Im Zentrum der Untersuchungen stand die Korrespondenz sich differenzierender Subjektkulturen mit dem tiefgreifenden historischen Wandel, der alle drei Großreiche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasste: Nationale und revolutionäre Bewegungen sowie territoriale Expansion im Russischen Reich und der Habsburgermonarchie bzw. die Bedrohung territorialer Integrität im Osmanischen Reich warfen Fragen nach der Zukunft imperialer Herrschaft auf. Umfassende innenpolitische Reformen (die Reformen der 1860er/70er Jahre sowie die konstitutionelle Wende 1905/06 im Russischen Reich, der österreichisch-ungarische „Ausgleich“ von 1867 oder die Tanzimat im Osmanischen Reich 1839ff.) gingen Hand in Hand mit dem politischen Aufstieg neuer sozialer Schichten. Neue regionale Zentren gewannen im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung an Bedeutung. Im Zeitalter der ersten Globalisierung positionierten sich imperiale Eliten auch auf internationaler Bühne. Das Forschungsvorhaben klärte, wie imperiale Eliten diese historischen Umbrüche in autobiographischen Texten reflektierten und mit Erzählungen über ihr eigenes Leben verknüpften. Zeugnisse autobiographischer Praktiken konnten als Akte sozialer Kommunikation bestimmt werden. In Selbstzeugnissen wurden Interpretationen imperialer Herrschaft und Wahrnehmungsmuster imperialer Räume entdeckt sowie die Wirkungsmächtigkeit konkurrierender Konzepte kollektiver Identität geprüft.
Am Departement Geschichte der Universität Basel waren Dr. Alexis Hofmeister (Post-Doc) und Carla Cordin, M.A. (Doktorandin) beschäftigt. Die Auftaktkonferenz „Autobiographische Praxis und Imperienforschung“ fand vom 6.-8 Juni 2013 in Basel statt (Tagungsbericht). Eine weitere internationale und interdisziplinäre Tagung widmete sich im Juli 2014 am Historischen Kolleg München der Thematik der „Imperial Experts and their Autobiographical Practices in Russia, Austria-Hungary and the Ottoman Empire" (Tagungsbericht).
Die Transformation imperialer Staatlichkeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zeigte, wie eng die Geschichte der jüdischen Bevölkerungen in Europa mit den untergegangenen Vielvölkerreichen zusammenhing. Den sephardischen Juden in Saloniki etwa hatte der osmanische Staat Sicherheit und Autonomie garantiert. In der Habsburgermonarchie erfreute sich die Juden ebenfalls staatlicher Protektion, wenn auch unter dem Signum der Religionsfreiheit. Im Russischen Reich galten die Juden einerseits als ethnisch und religiös Fremde. Andererseits bemühte sich der russländische Staat um die Integration der Gebildeten sowie der ökonomisch potenten Elite. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen aber doch ähnlichen Stellung vis-a-vis dem imperialen Staat wurde nun die historische Entwicklung des jüdischen Selbst wie sie sich etwa in jüdischer Autobiographik ausdrückte, verfolgt. Die jüdische Aufklärung (Haskala) vertrat ein konsequentes Programm des Auszugs der jüdischen Bevölkerung aus dem sprichwörtlichen Ghettodasein. Dazu gehörte die Befreiung des Individuums vom Zugriff der Familie und Religionsgemeinde. In den autobiographischen Texten der jüdischen Aufklärer finden sich daher Spuren jener imperialen „self civilizing missions“, in deren Dienst sie sich gestellt hatten. Indem sie auf Bildung und Erziehung der jüdischen Bevölkerungsgruppe hinwirkten, entsprachen sie dem verbreiteten Postulat, dass die Emanzipation der jüdischen Untertanen von ihrer Annäherung an die kulturellen Werte der Mehrheitsgesellschaft abhängig sei. Die von den jüdischen Aufklärern verfassten autobiographischen Texte wurden als Selbstapologien verfasst. Ihre Lektüre erlaubt es, ein idealisiertes Selbstporträt der aufgeklärten jüdischen Gegenelite zu zeichnen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden zunächst wenige Autobiographien vor allem auf Hebräisch. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wuchs die Anzahl autobiographischer Texte und die Bandbreite der verwendeten Sprachen. Dabei vergrösserte sich der Kreis der Rezipienten unddie Breitenwirkung der jüdischen Selbstbilder. Das Material erlaubt die Selbtwahrnehmung der Vielvölkerreiche um eine bislang wenig berücksichtigte Perspektive von den sozialen und geographischen Rändern der Imperien zu ergänzen. Die vergleichende Analyse der in den autobiographischen Texten propagierten Selbst- und Vorbilder lässt den unterschiedlichen Umgang mit jüdischen Gemeinschaften in den drei Kontinentalreichen plastisch hervortreten. Berücksichtigt wurden Texte des 19. Jahrhunderts in jiddischer, hebräischer, russischer, französischer, deutscher und polnischer Sprache sowie in Ladino. Das zu untersuchte Korpus umfasst etwa 60 Texte, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden und veröffentlicht wurden. Es ist geplant, die Ergebnisse der Untersuchung in einer Monographie zu veröffentlichen.
In den Jahren zwischen dem Regierungsantritt Zar Alexanders II. (1855) und dem Ende des Zarenreiches (1917) vollzogen sich in Russland gewaltige politische und sozio-ökonomische Umwälzungen. Die Frage nach der Reformierbarkeit des Imperiums wurde seit den »Grossen Reformen« der 1860er Jahre umso virulenter, als diese die Schwachpunkte der Autokratie ins Zentrum der Debatte gerückt hatten. Insbesondere die Berufsgruppe der Juristen, die an der Neustrukturierung des Gerichtswesens prominent beteiligt war, etablierte sich in dieser Zeit als wichtige Stimme der reformorientierten liberalen Intelligencija. Aufgrund ihrer beruflichen Stellung waren die Juristen beständig in die Auseinandersetzung über die Reformierbarkeit der imperialen Herrschaftsstrukturen involviert. Sie sind daher von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, mehr über subjektive Deutungen imperialer »Wirklichkeit« im späten Zarenreich zu erfahren.
Ziel dieses Projektes ist es, über Selbstzeugnisse russischer Juristen der Reformgeneration die Wechselwirkungen zwischen imperialer Rahmung und individueller Wahrnehmung besser zu verstehen. Autobiographische Texte sollen im Hinblick auf die individuelle Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung sowie den Erwartungshorizont hinsichtlich der Zukunft des Imperiums untersucht werden. Dabei stehen autobiographische Praktiken des prominenten Juristen Anatolij Fedorovič Koni (1844-1927) im Zentrum. Koni schloss 1865 seine Ausbildung an der Juristischen Fakultät der Moskauer Universität ab und nahm aktiv an der Umsetzung der Gerichtsreform teil. Nachdem er diverse Karrierestationen absolviert hatte, stieg er 1885 zum Oberstaatsanwalt auf und nahm später Einsitz in hohe politische Gremien. Koni hat zahlreiche Selbstzeugnisse hinterlassen, die mit autobiographischen Schriften anderer Juristen seiner Generation in Beziehung gesetzt und im Hinblick auf kollektive Leitbilder, professionelle Legitimationsstrategien sowie Deutungen der imperialen Herrschaft geprüft werden.
Autobiographische wie biographische Schriften der Juristen in ihrer Textualität in den Mittelpunkt zu stellen und so deren Schreiben als Akt sozialer Kommunikation zu lesen, stellt bis anhin ein wichtiges Forschungsdesiderat dar. Das Projekt eröffnet neue Perspektiven, die Selbstverständnis und Handlungsspielräume einer Berufsgruppe beleuchten, die eng mit der Frage nach der Entwicklung des russischen Imperiums verbunden war. So wird der Blick geschärft für das Wechselspiel zwischen imperialen Strukturen und Prozessen einerseits sowie Identitätsentwürfen, Zukunftsvisionen und der Handlungsmacht wichtiger historischer Akteure andererseits.
Das Projektplakat finden Sie hier.
Auch wenn das Osmanische Reich im frühen 20. Jahrhundert territoriale Verluste hinnehmen musste, so blieb es dennoch ein massgeblicher politischer und militärischer Faktor im internationalen Mächtesystem. 1908, mit der Entmachtung Sultan Abdülhamids II., traten die Jungtürken, die sich aus unterschiedlichen Milieus wie etwa Bürokraten, Offiziere und Intellektuelle – und zunächst auch aus verschiedenen Ethnien – rekrutierten, als signifikante politische Kraft hervor. Seit 1913 autokratisch regierend, herrschten die Jungtürken bis 1918 und prägten damit den entscheidenden Zeitraum der osmanisch-türkischen Achsenzeit von 1912 bis 1922. Von Anbeginn waren antiimperiale Haltungen ein zentraler Bestandteil der jungtürkischen Ideologie. Das Bewusstsein, Teil eines antiimperialen Kampfes zu sein, war so stark, dass einzelne Jungtürken sich nach dem Sieg Japans über Russland im Jahr 1905, der einen grossen Widerhall in der islamischen Welt fand, bei der japanischen Armee bewarben. Nach ihrer Machtübernahme 1908 pflegte die jungtürkische Führung ihre anti-imperialistische Haltung weiter, unter anderem in der Überlegung, auf diese Weise vielleicht sogar muslimische Bevölkerungen in europäischen Kolonialgebieten mobilisieren zu können. Trotz ihrer ausgeprägten antiimperialen Rhetorik führten jedoch die jungtürkischen Führer und Vordenker die osmanischen imperialen Traditionen fort und wandelten diese ab. Neue irredentistisch-imperiale, zugleich komplexe und fragmentarische Ideologeme wie der Pan-Turkismus mit dem Ziel einer Vereinigung aller Turkvölker von Zentralasien bis nach Südosteuropa wurden in der osmanisch-türkischen Intelligencija gehandelt. Jungtürkische Ideologen begannen, die Gesamtheit der arabischen Gebiete des Osmanischen Reiches als imperiale Kolonien zu betrachten. Damit nahmen sie traditionelle Vorstellungen der Muslime als der herrschenden Konfessionsnation (millet-i hakime) und koloniale osmanische Muster aus dem 19. Jahrhundert in radikalisierter Form auf. In Adaption europäischer Kolonialismus-Konzepte sahen sich die Jungtürken verpflichtet, vor allem die arabische Bevölkerung der osmanisch-türkischen mission civilisatrice zu unterwerfen. Auf der Grundlage autobiographischer Texte soll jungtürkischen Semantiken im Spannungsfeld von Imperialismus und Anti-Imperialismus nachgegangen werden. Obwohl die historische Osmanistik als akademische Disziplin inner- und ausserhalb der Türkei in den letzten Jahrzehnten entscheidende Fortschritte gemacht hat, sind autobiographische Schriften der spätosmanischen und frührepublikanischen Zeit als historische Quelle bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben. Auch vor diesem Hintergrund verspricht die Auswertung autobiographischer Schriften der Jungtürken grossen Ertrag. Vor allem türkische Historikerinnen und Historikern haben wiederholt auf die Bedeutung der in diesem Projekt untersuchten autobiographischen Schriften hingewiesen. Historische Arbeiten, die diese Quellen in systematischer Weise etwa auf den Komplex der »armenischen Frage« beziehen, sind jedoch nach wie vor selten. Das umfangreiche Korpus, dessen Hauptteil nach 1918 entstand, soll systematisch nach der komplexen Gemengelage imperialer, antiimperialer und nationaler bzw. nationalistischer Reflexe und Haltungen befragt werden. Das Projekt wird der Frage nachgehen, in welchen historischen Kontexten und in welchen Kommunikations-Situationen welche ideologische Positionen von wem favorisiert wurden. Lässt sich aus den jungtürkischen Autobiographien eine Art kollektive Weltanschauung rekonstruieren, und wenn ja, wie lässt sich diese bei einzelnen Akteuren nachweisen? Als Quellengrundlage dienen Autobiographien, sowie Tagebücher und Briefe führender Vertreter der jungtürkischen Bewegung.
Im Mittelpunkt steht die Wahrnehmung imperialer Herrschaft bzw. die Konstruktion von Ich-Entwürfen, wie sie in autobiographischen Texten von Ehefrauen hochrangiger Würdenträger des späten Zarenreiches wie etwa Gouverneuren und Generalgouverneuren zum Ausdruck kommen. Bei diesen Frauen handelt es sich um Mitglieder der gebildeten und mobilen Reichselite, denen zwar eine eigene Karriere in der Reichsverwaltung verwehrt war, die an der Seite einflussreicher Männer des Zarenreichs jedoch differenzierten Einblick in die Strukturen autokratischer Machtausübung in den verschiedenen Regionen des Imperiums bekamen. Meist auf repräsentative Aufgaben der Herrschaft zurückgeworfen, nutzten zahlreiche dieser Frauen die eigene privilegierte Stellung, um in Tagebüchern oder Memoiren über ihren eigenen Lebensweg zu reflektieren. Ausgehend von Vorstudien zu den Erinnerungen von Varvara Duchovskaja (1854-1931), die in ihren Memoiren über ihre Lebensstationen im südlichen Kaukasus, Fernen Osten und Turkestan reflektiert, sollen autobiographische Schriften von Marija N. Kristi (1860-?), Aleksandra N. Obolenskaja (1861-1945) u. Varvara D. Komarova (1862-1942) nach Wahrnehmungsmustern imperialer Herrschaft und imperialer Räume sowie nach spezifisch weiblichen Ich-Entwürfen und autobiographischen Schreibkonventionen befragt werden.
1885 wurde von der osmanischen Regierung ein hochrangiger Militär, der Marschall Gazi Ahmed Muhtar Pascha (1839-1919), als ausserordentlicher Kommissar (fevkalade komiser) nach Ägypten entsandt. Dort angekommen, wurde Ahmed Muhtar vom osmanischen Sultan Abdülhamid II. aus innenpolitischen Gründen bis zum Jahr 1908 in einer Art inoffiziellem Exil gehalten. Neben einer achtmonatigen Dienstzeit als Grosswesir im Jahr 1912 ist Ahmed Muhtar als erfolgreicher General während des osmanisch-russischen Krieges 1877-1878 hervorgetreten, über den er auch einen autobiographischen Bericht verfasste. In seinen deutlich mehr als zwanzig Jahren im ägyptischen Halbexil konnte Ahmed Muhtar sich jedoch nur durch seine sehr umfangreiche und mehrere Tausend Seiten umfassende bürokratische Korrespondenz äussern. Die grundlegende Annahme dieses Projekts ist, dass die bürokratische Korrespondenz Ahmed Muhtars – angesichts seines aussergewöhnlich langen und von faktischer Machtlosigkeit geprägten Aufenthalts in Ägypten – in ihrem kommunikativen Charakter autobiographische Züge gewinnt. Mithin soll die bürokratische Korrespondenz Ahmed Muhtars, entstanden nicht nur in einer Situation der persönlichen Isoliertheit, sondern auch des prekären imperialen Status des Osmanischen Reiches als ein Fall persönlicher und imperialer Selbstvergewisserung durch die soziale Praxis der täglichen bürokratischen Korrespondenz untersucht werden.
maurus.reinkowski@clutterunibas.ch
"...und das "Russische Biographische Lexikon"
Das späte 19. Jahrhundert war ein Zeitalter grosser biographischer Lexikonprojekte. Im deutschen Kaiserreich und in Grossbritannien wurden 1875, resp. 1885 entsprechende ambitionierte Vorhaben (Allgemeine Deutsche Biographie 1875-1912, Dictionary of National Biography 1885-1900) angestossen. Auch in den Imperien im östlichen Europa lassen sich in dieser Zeit vergleichbare Initiativen beobachten. 1856 begann Constant von Wurzbach ein entsprechendes Werk zur Habsburgermonarchie herauszugeben (Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreichs 1856-1891, BLKÖ). In Russland nahm sich Aleksandr A. Polovcov eines solchen Vorhabens an, dessen erster Band 1896 erschien (Russkij Biografičeskij Slovar‘ 1896-1918 RBS). An die Materialfülle und literarische Ausschmückung der beiden Werke reicht das vierbändige Kompendium, das Mehmed Süreyyâ in den 1890er Jahren im Osmanischen Reich vorlegte, nicht heran (Mehmed Süreyyâ 1891-1899). Die Historiographie hat diese Lexika bislang vorrangig als Hilfsmittel genutzt. Ihre Untersuchung als Forschungsobjekt sui generis steckt indes noch in den Kinderschuhen. Ziel ist es, das BLKÖ und das RBS als Quellen für die Imperienforschung und die Untersuchung biographischer Praktiken in Österreich-Ungarn und Russland fruchtbar zu machen. Die Methodik des TPs kombiniert historische Komparatistik mit einer literaturwissenschaftlich informierten Diskursgeschichte. Der Vergleich der beiden Werke erfolgt mit Blick auf vier Punkte. Erstens interessieren die beiden Initiatoren der Projekte sowie ihre biographischen Vorstellungen und Reichsauffassungen. Zweitens sollen beide Werke als Identifikationsangebote gelesen werden. Dabei interessiert vor allem ihr Verhältnis zu anderen Gemeinschaftsvorstellungen und anderen enzyklopädischen Grossprojekten. Den dritten Vergleichspunkt bilden kollektivbiographische Repräsentationen von Regionen bzw. sozialen, nationalen, religiösen und geschlechtsspezifischen Gruppen in beiden Reichen. Viertens ist die Poetik der biographischen Artikel von Belang. Hier geht es um Topoi und Narrative biographischen Schreibens, die nicht zuletzt zeitgenössische autobiographische Praktiken beeinflusst haben dürften. Über diese vier Fragen des Vergleichs hinaus leistet das Teilprojekt einen substantiellen Beitrag zum Gesamtprojekt. Es fokussiert auf die Entstehung biographischer Meistererzählungen und verspricht signifikante Erkenntnisse darüber, wie diese in den Selbstzeugnissen des autobiographischen Booms von der Mitte des 19. bis in das frühe 20. Jahrhundert reproduziert, angeeignet und transformiert wurden.
Das Teilprojekt untersucht individuelle Selbstverortungen in Imperien jenseits der Gattung Autobiographie anhand von drei Fallbeispielen aus dem späten Zarenreich. Im Mittelpunkt stehen Fedor F. Martens, Olga A. Ščerbatova und Nikolaj F. Petrovskij. Martens diente dem Imperium von 1870 bis 1909 als Völkerrechtler und Diplomat. Porträtfotografien, Tagebuchaufzeichnungen und eine Vielzahl juristisch-historischer Publikationen geben Aufschluss darüber, wie Martens das Imperium imaginierte und wie er sich selber in ihm verortete. Die Fürstin Ščerbatova unternahm in den 1880/90er Jahren mehrere Reisen, die sie zusammen mit ihrem Mann nach Palästina, Syrien, auf die arabische Halbinsel, Indien und Java führten. In drei Reiseberichten hat sie ihre Reiseerfahrungen des Osmanischen, Britischen und Niederländischen Empires dokumentiert. Dabei ist zunächst von Interesse, wie sie als Angehörige des Russländischen Imperiums auf die übrigen Imperien und Kolonialreiche blickte. Nicht minder relevant sind diese transkontinentalen Reisen als Reisen in Ermöglichungsräume, die der Fürstin Optionen der Selbstentfaltung eröffneten, die ihr in Europa und in Russland verschlossen waren. In ihren Reiseberichten zeichnet die Fürstin ein Bild davon, wie sie an der europäischen Vermessung der Welt und Wissensproduktion über fremde Räume beteiligt war. Petrovskij diente dem Zarenreich zunächst in der Finanzadministration des Generalgouvernements Turkestan, um darauf den Posten eines russischen Konsul in China zu bekleiden. Interessant ist, wie Petrovskij diese Funktionen in seinen Briefen von 1870 bis 1907 an unterschiedliche Korrespondenzpartner zeichnet. In der Summe erlauben die drei Fallbeispiele Aufschlüsse über Praktiken der Selbstdarstellung jenseits der Autobiographie.
"...polnischen Politikern der Habsburgermonarchie"
Für weiterführende Informationen zum Projekt und zur Person von Dr. Robert Luft, siehe hier.