Eine Gruppe Studierender der Geschichte, Osteuropäischen Kulturen und Osteuropastudien an der Universität Basel begab sich vom 4.-11. März 2017 eine Woche lang auf die Spuren der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Die Teilnehmenden stellten sich die Aufgabe, dem Mythos der Zwischenkriegszeit als "goldenes Zeitalter" von Stabilität, Fortschritt und künstlerischer Entfaltung nachzugehen und ihn kritisch zu hinterfragen.
Der Weg führte dabei über Herrschaftsrepräsentationen in Prag und die industrielle Moderne in Zlín bis zum multiethnischen Alltagsleben in Brno. Die Exkursion wurde von Georg Escher und Bianca Hoenig geleitet und aus Mitteln des Departement Geschichte, der Skuba, des Osteuropa Forum Basel und des Slavischen Seminars unterstützt.
„Am 28. Oktober 1918 wurde in den Strassen Prags die tschechoslowakische Republik ausgerufen: damit fand der Jahrhunderte alte Traum von der staatlichen Selbstständigkeit der Tschechen seine Erfüllung.“1 Unsere Reise nach Prag, Zlín und Brno gestaltete sich als Zeitreise in die bis heute als goldene Ära empfundene Erste Tschechoslowakischen Republik. Worauf die Errungenschaften und die damit einhergehende Glorifizierung und Mystifizierung der Ersten Republik zurückzuführen sind, sollten wir in den folgenden sieben Tagen aus den Gesprächen mit Historikern, Literaturwissenschaftlern, unseren Dozierenden und KommilitonInnen erfahren.
Nach unserer Ankunft in Prag legten wir am ersten Tag, einem Sonntag, etliche Kilometer zu Fuss zurück, indem wir morgens schon den VítkovHügel bestiegen. Dort besichtigten wir das monumentale Nationaldenkmal zu Ehren der tschechischen Legionäre inklusive des ehemaligen Mausoleums für den kommunistischen Staats- und Parteichef Klement Gottwald sowie das Museum. Unheimlich schon mutete das Denkmal in seiner Monumentalität an wie auch das Museum in seinem marmornen Inneren. Erst vom Aussichtsturm aus verflüchtigte sich die Schwere und Dunkelheit des Denkmals und es öffnete sich ein 360°-Panoramablick über Prag. Den Nachmittag durften wir mit der Literaturwissenschaftlerin Libuše Heczková verbringen, die uns das Prag der Zwischenkriegszeit in seiner funktionalistischen Ästhetik näherbrachte. Der Stadtspaziergang führte letztendlich auch zum Wohnhaus der Gebrüder Čapek, was uns Studierenden besonders imponierte. Der gelungene Tag endete mit einem ersten gemeinsamen Abendessen traditioneller böhmischer Küche.
Vom literarischen Prag der Zwischenkriegszeit wurden wir am Montag durch das cineastische Prag, durch die Barrandov-Studios geführt. Nach der Ernüchterung einer touristischen Führung blieben uns dennoch die Barrandov-Terrassen mit seinen Ruinen des Vergnügungshotels der damaligen Berühmtheiten und ein freier Nachmittag zur Aufmunterung. Am Dienstagmorgen brachen wir zeitig zum Masaryk-Institut und -Archiv auf, wo uns die wissenschaftlichen Mitarbeiter Helena Kokoševá, Lucie Merhautová und Vít Chodě- jovský herzlich in Empfang namen und uns einen Einblick in die archivarischen Tätigkeiten wie auch ihre eigene Forschung gewährten. Stolz präsentierten sie uns die Nobelpreismedaille und das dazugehörige Zertifikat des Chemikers Jaroslav Heyrovský. Nachmittags bestiegen wir den Letná-Hügel, den vielleicht prominentesten und umstrittensten Hügel der Stadt, der bis heute keine richtige Funktion hat, obwohl er von der ganzen Innenstadt aus zu sehen ist. Anschliessend besuchten wir den Messepalast, in dem seit den 1980er Jahren die Nationalgalerie moderne Kunst ausstellt. Das Augenmerk galt den avantgardistischen Künstlern Toyen 1 Grieben Reiseführer: Prag und Umgebung mit Angaben für Automobilisten. (Band 26) Berlin 1934. S. 16 f. und Jindřich Štyrský sowie den Stadtansichten und dem Masaryk-Portrait von Oskar Kokoschka. Abends ging es mit dem Zug weiter Richtung Osten – nach Zlín.
Angekommen im ostmährischen Zlín begaben wir uns auf die Spuren des Schuhfabrikanten Bat’a, der die Produktion und den Alltag seiner Mitarbeiter vollständig seinen Vorstellungen einer effizienten und fortschrittlichen Industriemoderne unterwarf. Morgens fuhren wir bei strahlendem Sonnenschein mit dem Bus ins Kreisarchiv im Schloss Klečůvka, wo uns die Archivare David Valůšek und Martin Marek ihre unzähligen Schätze aus der Geschichte der Stadt und des Unternehmens zeigten. Gemeinsam mit dem Prager Historiker Vítězslav Sommer begleiteten sie uns auch auf Bat’as Spuren durch das Firmenareal. Auf der Terrasse des ehemals höchsten Gebäudes des Landes, die mit dem historischen „Aufzugsbüro“ des Fabrikdirektors erreicht werden kann, unterbreiteten sie uns ihr ganzes Fachwissen zur Stadt, zur Firma und zur Architektur Zlíns. Zum Abschluss des langen Tages spazierten wir durch die Pfade der ehemaligen Mitarbeiter-Einfamilienhäuser, einem bunten Sammelsurium aus würfelförmigen Gebäuden, die wie auch die Fabrikgebäude auf dem Schema quadratischer Bauelemente (6,15 m x 6,15 m) beruhen.
Nach einem freien Morgen setzten wir uns mit dem Bus in Bewegung Richtung Brno, der mährischen Hauptstadt der ehemaligen Tschechoslowakei. Aufgeteilt in zwei Gruppen besichtigten wir die berühmte funktionalistische Villa Tugendhat, erbaut von Mies van der Rohe, oder das Messegelände, ein glänzendes Überbleibsel des wirtschaftlichen Aufschwungs der Ersten Republik. Den letzten gemeinsamen Abend speisten wir gediegen in einem Restaurant am Zelný trh. Am Freitagmorgen zeigte sich Brno noch einmal von seiner schönsten Seite. Im Sonnenschein besuchten wir die 1919 eröffnete und nach dem Staatsgründer benannte Masaryk-Universität und das Ethnologische Seminar. Die Dozentin Jana Nosková führte uns durch das ehemalige jüdische Viertel und Arbeiterquartier Brnos und erläuterte uns das Zusammenleben von tschechischer, deutscher und jüdischer Bevölkerung in der Zwischenkriegszeit. Als wir abends die Heimfahrt antraten, ging es zum Schluss noch turbulent zu. Aber trotz Bombenwarnung auf der Zugstrecke und Müdigkeit erreichten wir Basel wohlbehalten am Samstagmorgen früh.
In der Selbstwahrnehmung vieler Tschechen ist die Erste Republik immer noch jene glorifizierte Epoche, die uns bis heute mit ihrer Literatur, bildenden Kunst und Architektur begeistert. Neben den technischen Fortschritten mit dem Einzug der Moderne stachen uns besonders die Funktion und damit verbundene Ästhetik der Gebäude ins Auge. Aber auch die Gedanken Masaryks zu einem idealen Staat und die Manifeste der avantgardistischen Künstler zur Vereinigung von Kunst und Leben trugen auf geistiger Ebene zum Glanz jener Zeit bei. Trotz dieses Glanzes warfen wir auch einen kritischen Blick auf ein letztlich gescheitertes Projekt der Moderne. Sei das Scheitern der Ersten Republik nun dem Einmarsch der Nationalsozialisten geschuldet, zerbrach die Tschechoslowakei von innen heraus oder handelt es sich letztlich um eine Kombination von beidem – ihre Faszination hat sie bis heute nicht verloren.
Getragen von der Euphorie der Reise kamen auch das gesellige Beisammensein und der Austausch zwischen KommilitonInnen und Dozierenden nicht zu kurz. Es musste nicht jeden Abend böhmische Küche sein, doch gemeinsames Essen und das verdiente Bier am Abend wurden meistens zusammen genossen. Sowohl in wissenschaftlicher als auch auf sozialer Hinsicht war die Exkursion ein voller Erfolg – vielleicht glänzt sie in unserer Erinnerung eines Tages ähnlich golden wie die Ära der Ersten Tschechoslowakischen Republik.
Text: Ada Mohler, Aurelia Rohrmann Fotos: Jael Sigrist