Ein Professor, eine Russischlehrerin, 19 StudentInnen und eine Stadt! Das aufregende Projekt „St. Petersburg. Hauptstadt des Imperiums“ begann mit dem Start des Frühjahrsemesters im Februar 2012. Von da an trafen wir uns alle zwei Wochen zu Herrn Prof. Schenks Übung über die Geschichte St. Petersburg von der Stadtgründung im Jahr 1703 bis zur den Revolutionen von 1917. Das Interesse und Engagement aller waren von Anfang an gross. Jede(r) StudentIn trug mit einem themenspezifischen Referat dazu bei, dass Russlands imperiale Hauptstadt auch schon von Basel aus erkundet und erforscht wurde.
Anfang Juni, gleich mit dem Beginn der Semesterferien ging die Reise nach St. Petersburg dann auch endlich los! Nach einem halben Tag Reisen erreichten wir unser Hostel Ligovskij Prospekt und trafen auf die drei Studenten Dasha Smirnova, Daniel Tinjakov und Nastja Ivanichkova von unserer russischen unserer Partneruniversität Vysšaja Škola Ėkonomiki (Hochschule für Ökonomie). Die drei begleiteten uns während der folgenden Tage und standen uns bei unserer Stadterkundung zur Seite.
Auf dem Weg zum Aleksandr-Nevskij-Kloster, als wir unsere ersten Schritte durch die Stadt wagten, konnte man sich leicht durch den Verkehr ablenken lassen: Neben unzähligen Luxusschlitten mit 4x4-Antrieb manövrieren ramponierte Autos mit zum Teil kaputten Fenstern oder verbogenen Stossstangen. Markierte Parkplätze gibt es am Strassenrand keine, dafür „schachteln“ sich die Autos kreuz und quer. Die Stadt ist laut und aufregend, wir liefen wie eine Gruppe Schäfchen hintereinander her und sogen alle Eindrücke auf. Bei der Nevskij-Lavra angekommen, erwartete uns das von Peter dem Grossen begründete russisch-orthodoxe Kloster, das angeblich an der Stelle gebaut wurde, wo der Nationalheld und Heilige Aleksandr Nevskij im 13. Jahrhundert die Schweden besiegte.
Am nächsten Tag machten wir einen Zeitsprung ins 19. Jahrhundert und erkundeten die Stadt mit Hilfe eines zeitgenössischen „Baedekers“. Trotz der imaginierten Pferdekutschen auf dem Nevskij Prospekt, führten wir die Tour mit Bus und Metro weiter, um einen ersten Überblick zu bekommen. Wir liefen am Ufer kleiner Kanäle und an der Neva entlang und sahen mächtige Gebäude wie die Admiralität. Einen weiteren Überblick auf die Stadt verschaffte uns die wunderschöne Aussicht von der Isaaks-Kathedrale, von der aus sich uns die Dimension der Stadt erst so richtig erschloss.
Am frühen Abend empfing uns eine nette Dame in der Petri-Kirche zur Führung. Hier lernten wir mehr über die Bedeutung der Deutschen in St. Petersburg. Die grösste lutherische Kirche Russlands wurde während der Chruščëv-Zeit zu einem Schwimmbad umgebaut. Zum Abschluss des Tages konnten wir alle eine Bootsfahrt auf der Neva und den vielen kleinen Kanälen unter blauem Himmel geniessen. Der Petersburger Historiker Aleksej Krajkovskij führte uns dabei an den bedeutenden Wahrzeichen der Stadt, der Peter-und Pauls-Festung, der Ioannovskij Brücke und den vielen Palästen vorbei.
Eine der interessantesten Begegnungen in St. Petersburg – wer hätte es gedacht – war mit einem Schweizer. Der Generalkonsul der Schweiz, Ernst Steinmann, hatte uns zum „Zmorgen“ eingeladen und offen über sein Diplomaten-Leben erzählt. Dabei berichtete er darüber, wie er in politisch umstrittenen Diskussionen, bspw. in Debatten über das neue Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“, reagieren darf.
Nach einem Rundgang durch den Taurischen Garten und am Suvorov-Museum vorbei, konnten wir die Aussicht von den Türmen der Smolnyj Kathedrale geniessen. Abgerundet wurde der Tag mit einem Vortrag von Dr. Tatjana Borisova von der Hochschule für Ökonomie zu „St. Petersburg as capital of imperial legislation“, die über die frühe Rechtsammlung und den Versuch der Vereinheitlichung der Rechtsprechung im imperialen Russland referierte.
Am nächsten Morgen ging es mit einem gemieteten Car das erste Mal aus St. Petersburg raus nach Schlüsselburg. Die Stadt ist heute in einem recht desolaten Zustand, war aber während der Zeit Peters des Grossen von grosser Bedeutung für den Handel von ganz Russland. Schlüsselburg bekam von Peter diesen Namen, weil er die Stadt als „Schlüssel“ zur Eroberung der Ostsee ansah nachdem er die Festung im Jahr 1702 im Grossen Nordischen Krieg zurückerobern konnte. Die Festungsinsel erreichten wir mit einer kurzen aber wilden Schlauchbootfahrt. Dort zeugten eine Ausstellung und noch erhaltene Zellen von der Nutzung der Anlage als Gefängnis in der Zarenzeit. Hier waren zahlreiche “berühmte“ Staatsfeinde und Revolutionäre interniert.
Am Nachmittag des fünften Tages, trafen wir uns mit dem Kunsthistoriker Prof. Ivan Czeczet für eine Exkursion nach Carskoe Selo und Pavlovsk. Dieser Tag war den mächtigen, prunkvollen Residenzen und Parks der Zaren gewidmet. Prof. Czeczet führte uns nicht nur die glanzvolle Architektur vor, auch erläuterte er uns die Ikonografie des Katharinen-Parks in Carskoe Selo (Puschin) und wies wies uns interessante, zum Teil pikante, Details hin: das Gemach, wo sich die Zarin Ekaterina mit ihrem Geliebten traf, oder die Fotokamera, mit welcher der letzte Zar Nikolaus II. passioniert seine Familie fotografierte. In Pavlovsk entdeckten wir ein luxuriöses „Burg“-Hotel, untergebracht im ehemaligen Sitz der Ehefrau Pauls I. Freundlicherweise öffnete man uns die Türen und wir durften und die „Turmsuite“ anschauen: Für das Budget natürlich unvorstellbar, aber für ein Gruppenfoto war es gut genug.
Nach einer zweieinhalbstündigen, etwas holprigen Busfahrt vorbei an Wochenendhäusern und Ferienressorts erreichten wir am folgenden Tag ein ganz spezielles Ziel unserer St. Petersburg-Reise: Das neu gegründete Kloster „Heiliger Ort“ (Blagoe Mesto) auf der karelischen Halbinsel. Die Kühe, Waschbären, Sträusse, Kaninchen, vor allem aber die Kirche, benannt nach dem Heiligen Aleksandr Nevskij, sind der ganze Stolz des jungen Klosters. Von aussen einer gewöhnlichen orthodoxen Kirche ähnelnd, überrascht die Kirche, bemalt vom Freskenmaler und Künstler Aleksandr Iščenko, mit ihrer fröhlichen und farbenfrohen Helligkeit. Wie uns der Abt des Klosters Pater Rostislav erklärte, stehen diese Farben für das Evangelium, das nicht düster und bedrückend sein soll, sondern frei von Aberglaube und mystischen Verirrungen. Es verwundert nicht, dass diese durchaus liberale Interpretation des Evangeliums auf Kritik innerhalb der orthodoxen Kirche stösst. – Am gleichen Abend Kontrastprogramm: Die Europameisterschaft wurde eröffnet. Russland feierte gleich einen Sieg gegen Tschechien – wir feierten natürlich mit.
Wieder zurück im Zentrum der ehemaligen Zarenstadt bildete das Luxuswarengeschäft der Brüder Eliseev am Nevskij Prospekt, in das wir am nächsten Tag vor dem Besuch der Nationalbibliothek einen raschen Blick warfen, einen klaren Gegensatz zu der Landidylle des Klosters. Die russische Nationalbibliothek hält einige unbekannte Schätze verborgen: Voltaires persönliche Sammlung, welche im 18. Jahrhundert von Katharina II. gekauft wurde, gehörte eindeutig zu den Highlights.
Ein etwas skurriler Programmpunkt war das Ethnographische Museum, besser bekannt als „Kunstkammer“ Peters des Grossen. Nicht nur, dass die Ausstellungsart, die mehr an ein wildes Sammelsurium erinnerte, für uns heute etwas gewöhnungsbedürftig ist, sondern auch, dass die Ausstellungsobjekte, die von einem Elefantenpenis über missgebildete Föten bis hin zur Jagdkleidung der Inuits führten, zuweilen etwas befremdlich waren.
Zum Ausklang des Tages referierte die Gastdozentin Dr. Nina Zonina von der Hochschule für Ökonomie über „Imperiale Gärten und Parks“, insbesondere über den neu eröffneten Sommergarten (Letnij Sad). Im Anschluss diskutierten wir ausgiebig über die Frage, wie mit dem historischen, insbesondere dem sowjetischen Erbe in Petersburg umgegangen werden soll. Soll beispielsweise der Sommergarten wiederhergestellt werden, wie er im 18. Jahrhundert aussah oder sollen die Spuren seiner Gestaltung in den „Leningrader Jahren“ bewahrt bleiben? Nina Zonina lehnt ersteres ab, da der Garten für sie im Laufe der Zeit den alten Glanz verloren hat und heute, nach der Restauration wie ein tote Kopie à la Las Vegas wirke. Im gleichen Atemzug lehnt sie jedoch die Bezeichnung „Leningrad“ für St. Petersburg vehement ab... Für uns ein sprechendes Beispiel für den widersprüchlichen Umgang der heutigen Petersburger mit der (imperialen und sowjetischen) Geschichte ihrer eigenen Stadt.
Der folgende Sonntag stand ganz im Zeichen der religiösen Vielfalt des imperialen St. Petersburgs: wir besuchten die Moschee und die Synagoge. Eine zierliche junge Dame mit leuchtenden Augen, zeigte uns voller Stolz das wunderschöne im maurischen Stil erbaute jüdische Gotteshaus und die Hochzeitskapelle mit der Chuppa und dem schönen Holzboden.
Eine unserer Stationen am letzten Tag führte uns zum ersten Bahnhof Russlands, zum heutigen „Vitebsker Bahnhof“, ein gewaltiger Verkehrspalast im Jugendstil. Die Residenz der Stroganovs am Nevskij Prospekt, die wir im Anschluss besichtigten, rief uns erneut die Diskussion über den Umgang mit dem imperialen/sowjetischen Erbe in Erinnerung: Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion war hier eine Gemeinschaftswohnung (Kommunalka) untergebracht und der ehemalige Prunk der Residenz konnte damals nur noch an manchen Stellen erahnt werden. Von diesem traurigen Kapitel zeugen heute lediglich vereinzelte Fotos in den Räumen. Fragen wie „War dieses Muster wirklich so? Und die Farbe, ist sie authentisch?“ stellten sich uns unweigerlich. Doch bevor die Diskussion über den Umgang mit dem zarischen, sowie dem sowjetischen Erbe am Roundtable mit den russischen Studierenden der Vysšaja Škola Ėkonomiki weitergeführt werden konnte, führte uns unsere letzte Tour zur Insel Neuholland und auf einen Rundgang durch die Hinterhöfe St. Petersburgs.
Nach der Diskussion mit den russischen Studierenden setzte das Abschlussessen in einem armenischen Restaurant (ganz im Zeichen von St. Petersburg als Zentrum des Vielvölkerreichs) einen würdigen Schlusspunkt. Erschöpft, aber erfüllt von vielen neuen Eindrücken, Erlebnissen, Erfahrungen machten wir uns am nächsten Tag auf den Heimweg und, als ob die Schweiz uns gerufen hätte, fing es zum ersten Mal in den gesamten zehn Tagen an zu regnen.
Bericht von Rhea Rieben und Tamara Funck