Studierende des Departements Geschichte und des Slavischen Seminars begaben sich Ende Juli / Anfang August 2018 mit Professor F. Benjamin Schenk (Professor für Osteuropäische Geschichte) und Thomas Grob (Professor für Slavische Literaturwissenschaft) auf eine zehntägige Exkursion auf die Klosterinsel Solowki – gelegen im Weissen Meer, nur wenige Kilometer südlich des Polarkreises. Die Solowetzki-Inseln haben eine vielschichtige Vergangenheit. Während mehrerer Jahrhunderte waren sie Schauplatz wichtiger Ereignisse der russischen Geschichte. Es interessierte uns vor allem jene Periode, in der das Kloster ein wichtiges religiöses Zentrum war und die nachrevolutionäre Zeit, in der auf dem Archipel das Gefangenenlager SLON (ein sowjetisches Konzentrationslager) betrieben wurde. Aber auch die kontroverse aktuelle Erinnerungspolitik von staatlichen, kirchlichen und nichtstaatlichen Akteuren galt es zu untersuchen.
Während des vorangegangenen Semesters wurde die Exkursion in einer Lehrveranstaltung tiefgehend vorbereitet. Während der Reise leisteten die Studierenden in Form eines Inputreferats einen inhaltlichen Beitrag.
Erste Station der Reise war die wunderschöne Stadt Sankt Petersburg. Im Rahmen einer kurzen Stadtbesichtigung zu Fuss betrachteten wir den Solowetzki-Stein, ein Denkmal für die Opfer des Grossen Terrors. Im selben Kontext besuchten wir das Petersburger Büro und das Archiv der Menschenrechtsorganisation Memorialund hatten die Gelegenheit, ein intensives und hochspannendes Gespräch mit Irina Flige zu führen. Sie, Leiterin des Büros, und Vladimir Lapin, Professor an der European University at St. Petersburg, stellten sich unseren Fragen. Dabei erhielten wir Einblicke in die Tätigkeit und die Geschichte von Memorialund der assoziierten Aktivisten. Professor Lapin erläuterte die Besonderheiten des vergangenen sowjetischen und des heutigen russischen Wissenschaftsbetriebs.
Weiter führte uns unsere Exkursion in die Teilrepublik Karelien. Mit dem Nachtzug fuhren wir in die Kleinstadt Medwezhegorsk am Onegasee. Der Besuch der nahegelegene Gedenkstätte Sandarmoch war einer der eindrücklichsten und zugleich bedrückendsten Programmpunkte. Er war gekennzeichnet durch den Kontrast zwischen der harmlosen heutigen Erscheinung des Ortes und dessen grauenhafter Vergangenheit. In dem unscheinbaren Waldstück liegen nämlich die sterblichen Überreste tausender Opfer des Grossen Terrors. An diese erinnern einzelne mit steinernen Umrandungen kenntlich gemachte Massengräber sowie persönliche Gedenktafeln und Bilder einzelner Opfer. Ebenfalls vorhanden sind grössere Monumente für die unter den Opfern vertreten Nationen und Religionen.
Der Direktor des regionalhistorischen Museums von Medwezhegorsk führte uns durch die aktuelle Ausstellung. Er zeigte uns zudem eine nahegelegene Schleuse des Weissmeer-Ostsee-Kanals, welcher Anfang der 1930er Jahren von Häftlingen mit einfachsten Mitteln und unter grossen menschlichen Verlusten erbaut worden ist. Uns Besuchern war bekannt, welche propagandistische Bedeutung das Grossprojekt für die Sowjetunion hatte. Es zeigt sich dennoch in Anbetracht der heutigen Bedeutungslosigkeit des Kanals deutlich, in welchem Missverhältnis die menschlichen Kosten zum Nutzen standen.
Von Medwezhegorsk fuhren wir weiter mit dem Zug zur Hafenstadt Kem' am Weissen Meer und setzten dort per Schiff auf die Hauptinsel des Solowki-Archipels über. Am Bestimmungsort unserer Exkursion angekommen, erkundeten wird die Inseln auf vielfältige Weise. Wir erhielten vier Führungen mit unterschiedlichen Themen, Perspektiven und institutionellen Hintergründen. Wie auch schon der Museumsdirektor inMedwezhegorsk äusserten sich die Guides neben dem offiziellen Inhalt ihrer Führungen auch zu ihren eigenen Meinungen (sie deklarierten diese aber stets offen). Ihre persönlichen Kommentare ergänzten sich teilweise, widersprachen sich aber auch manchmal.
Zuerst nahm uns eine Führerin des Klosters mit auf einen Rundgang durch die Klostergemäuer und erzählte uns die offizielle Geschichte des Klosters und dessen Bauwerke. Dabei überging sie die Zeit, in welcher die Gebäude des Klosters für das Lager genutzt wurden, teilweise vorsichtig. Ausführlich ging sie jedoch auf die Restaurierung und Rekonstruktion des Klosters ein. Interessant war es zu erfahren, dass es auch schon in vorrevolutionärer Zeit Inhaftierte im Klostergefängnis gegeben hat.
Unser zweiter Guide stellte sich im Gegensatz dazu deutlich als institutionell unabhängiger Führer vor. Er referierte zunächst über die geographischen Gegebenheiten des Archipels und über die Frühgeschichte bis zur Gegenwart. Dabei vertrat er eigene, alternative und kontroverse Interpretationen der regionalen Geschichte. Dies war als Gegenposition zur offiziellen Perspektive ziemlich spannend. Ein Mitarbeiter des Lager-Museums führte uns im Anschluss durch die Ausstellung, welches sich in einer ehemaligen Lagerbaracke befindet. Dabei mussten wir feststellen, dass in der Ausstellung teilweise Propaganda-Material gezeigt wurde, ohne dass es kontextualisiert worden wäre. Dies führte zu einer angeregten Diskussion über Erinnerungskultur und -politik im heutigen Russland.
Die letzte Führerin nahm uns per Schiff mit auf die nahegelegene, kleinere Nebeninsel Anzer. Auf dieser besichtigten wir mehrere Skity, in denen Mönche spirituell intensiver und in kleineren Gemeinschaften als im Hauptkloster leben. Die Führerin war selber praktizierende Gläubige, und konnte uns so während der Führung eine zusätzliche Perspektive eröffnen.
Ein ganz besonderes Erlebnis war unsere Fahrradtour auf der Hauptinsel. Über technisch anspruchsvolle Naturstrassen fuhren wir mit klapprigen Zweirädern mit Rücktrittsbremse aber ohne Dämpfung zu der auf einem Hügel gelegenen Swjato-Woznesenski Skit (Christi-Himmelfahrt Einsiedelei). Hier war während der Lager-Zeit ein sogenannter «Straf-Isolator» untergebracht. Von der Kirche, die als Gefängnis diente, führt eine Treppe hinab, wo zur Zeit des Lagers Häftlinge auf grausamste Art und Weise gefoltert und hingerichtet wurden. Auch an diesem heute friedlich daherkommenden, in idyllischer Natur gelegenen Ort weisen nur noch Gedenktafeln und Kreuze auf seine Vergangenheit und die Opfer hin.
Mit Schiff und Nachtzug traten wir die Rückreise über Sankt Petersburg an.
Allgemein lässt sich sagen, dass es neben der Besichtigung der örtlichen Gegebenheiten interessant war, den Umgang der verschiedenen Akteure mit der komplexen Vergangenheit der von uns besuchten Orte zu beobachten. Aktivisten wie jene der Nichtregierungs-Organisation Memorialmöchten die Geschichte des Stalinismus und des Terrors gründlich aufarbeiten – sie möchten insbesondere die Opfer sichtbar machen und die Täter benennen. Akteure der orthodoxen Kirche wiederum bemühen sich darum, die religiöse Tradition der Insel wiederaufleben zu lassen und so die Lagervergangenheit teilweise zu überdecken. Dies hilft zwar, den Ort nicht im Zustand des musealen Grauens zu belassen, sondern wiederzubeleben und der Insel und den Menschen vor Ort eine Zukunft zu geben. Zugleich erhalten die Opfer des Terrors aber eine selektive und betont religiöse Bedeutung, die ihnen nicht in jedem Fall gerecht werden muss und manche Opfer wohl ausschliesst. Ähnlich verhält es sich mit den Nationen und ihren nationalen und teilweise auch religiösen Gedenkmonumenten, mit denen sie Opfer für sich beanspruchen. Auch in diesem Fall kann kontrovers argumentiert werden, ob es sich hierbei um eine legitime oder nachträglich aufgesetzte Vereinnahmung handelt. Staatliche und lokaladministrative Akteure haben Menschenrechtsaktivisten in den ersten postsozialistischen Jahren relativ freie Hand gelassen und sie auch teilweise unterstützt. In jüngerer Zeit jedoch hat sich dies jedoch geändert: Staatliche Akteure legen Wert darauf, zwar den Opfern zu gedenken, aber dabei die Täter und den Kontext der Verbrechen unerwähnt zu lassen.
Eindrücklich war das physische Erfahren der zurückzulegenden Distanz, um die peripher gelegenen Slowezki-Inseln zu erreichen. Aber auch, deren Abgeschiedenheit zu erleben: Beispielsweise indem beinahe alle Wege auf den Inseln zu Fuss zurückgelegt wurden. Die geographische Nähe zum nördlichen Pol äusserte sich in äusserst kurzen Nächten, in denen es auf der Insel nie ganz dunkel wurde, jedoch nicht in Form des Wetters. Denn beinahe während unseres ganzen Aufenthalts war es ungewöhnlich warm, ja sogar heiss. Ganz sicher wird die immense Anzahl Stechmücken allen Teilnehmenden in Erinnerung bleiben.
Zu guter Letzt hat während der Exkursion auch ein Virus namens «Tichu» um sich gegriffen. So wurde auch in den langen Nächten im Nachtzug bis morgens früh noch Karten gespielt...
Roy Denz und Naomi Reichlin